Der nahtlose Übergang von der Corona-Krise zum Krieg in der Ukraine ist bezeichnend für das, was wir bald als neue Normalität akzeptieren müssen. Statt Work-Life-Balance-Optimierung und unbeschwertes Feiern sind wir angesichts der starken Dynamik des Wandels in Gesellschaft, Politik und Technologie gefordert, mit Unsicherheit und Knappheit leben zu lernen.

Dies erfordert Fleiss, Bescheidenheit, Kreativität und einen Blick über die akuten Brandherde hinaus auf die langfristigen Herausforderungen unserer Zeit.

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Krisen und «Schocks» sind keine Ausnahme mehr

Das 21. Jahrhundert ist durch schnelle technologische, politische und gesellschaftliche Veränderungen geprägt, die eine laufende Anpassung erfordern. Krisen und «Schocks» sind keine Ausnahme mehr – gerade für die krisenverschonte Schweiz eine neue Situation. Es gilt, unsere Resilienz zu stärken und das «gesellschaftliche Immunsystem» zu aktivieren.

Ein zentrales Element ist der Aufbau einer systematischen Früherkennung, die nebst den offensichtlichen Risiken auch indirekte Folgen des Wandels berücksichtigt. Dies erfordert die längst notwendige Verschiebung weg von einem reinen Technologiefokus hin zur Gesellschaft. Denn ohne Berücksichtigung gesellschaftlicher Bedürfnisse lassen sich weder griffige Massnahmen für den Klimaschutz durchsetzen noch vertrauenswürdige digitale Geschäftsmodelle entwickeln.

Drei Herausforderungen für die nahe Zukunft

  • 1. Erschwerte Innovation: Bescheidenheit statt Roaring Twenties

Das jüngst vom britischen «Economist» angekündigte «Age of Scarcity» ist mit den steigenden Preisen für Energie, Nahrungsmittel oder Halbleitern bereits Realität. Während die Wachstumsstrategien von Unternehmen bis vor kurzem auf offenen, globalen Märkten, weit reichenden Freiheitsgraden und unbeschränktem Zugang zu Rohstoffen geprägt waren, zeichnen sich nun neue Grenzen des Wachstums ab.

Dies stellt Unternehmen, Bürgerinnen und Bürger vor die Aufgabe, neue Wege des Wachstums zu finden. Die veränderten geopolitischen Verhältnisse, aber auch der Klimawandel und der dringend benötigte Aufbau einer funktionierenden digitalen Basisinfrastruktur – zum Beispiel im Gesundheitssystem – erfordern viel Arbeit und noch mehr Bescheidenheit. Dies steht allerdings im Widerspruch mit dem Anspruch vieler Menschen nach einer höheren Work-Life-Balance.

Was ist zu tun?

Wir müssen das «gesellschaftliche Immunsystem» aktivieren. Neben einer hohen Einsatzbereitschaft und dem Fleiss aller benötigen wir langfristige Zukunftsbilder, die aufzeigen, wie und wo Wertschöpfung trotz Einschränkungen möglich ist. Knappheit kann gleichzeitig als Chance dienen, um unsere Innovationsfähigkeit durch Kreativität zu steigern – dadurch, dass fehlende Güter substituiert oder wiederverwertet werden müssen. Darüber hinaus trägt Knappheit dazu bei, Schein-Innovation zu verhindern. So ist es beispielsweise kaum zwingend, Tachometer in Fahrzeugen digital zu gestalten.

  • 2. Komplexe Nachhaltigkeit: Rationalität statt Romantik    

Die Digitalisierungsbestreben der letzten zwei Jahrzehnte haben in vielen Nachhaltigkeitsbereichen zu einer stärkeren Transparenz geführt und Umweltbelastungen messbar gemacht. Dazu gehören etwa satellitengestützte Abholzungsdaten oder die aktuellen Feinstaubemissionen einzelner Industriequartiere. Gleichzeitig verursachen genau diese digitalen, oftmals Cloud-basierten und rechnerleistungsintensiven Lösungen beim Trainieren von künstlich intelligenten Algorithmen oder beim Streamen von Filmen und Musik einen hohen CO2-Ausstoss.

Der Autor – Stephan Sigrist

Dr. Stephan Sigrist ist Gründer und Leiter des Thinktanks W.I.R.E. und hat 2020 die Future Society Association (FSA) lanciert, eine Plattform zur Früherkennung gesellschaftlicher Veränderungen. Sie vernetzt führende Unternehmen, Stiftungen, Hochschulen und Akteure sowie Akteurinnen aus Politik und Zivilgesellschaft.

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Auch beim Übergang in die elektrische Mobilität mit dem wachsenden Bedarf an Seltenen Erden ist noch nicht abschliessen klar, ob dieser Schritt ausreichend ist, um die Umwelt zu schützen. Ein ähnlich ambivalentes Bild zeigt sich in der Landwirtschaft: Während der biologische Anbau von Nahrungsmitteln die Artenvielfalt schützt, klimaschädliche Gase reduziert und den Nährstofferhalt im Boden fördert, benötigt er mehr Fläche als konventionelle Anbaumethoden.

Die erhöhte Verlustrate von unbehandelten Gemüsen oder Früchten wirkt sich ebenfalls negativ auf die Klimabilanz von Bioprodukten aus. Auch die Diskussion über den Nachhaltigkeitsgrad von Kernkraftwerken zeigen die Grenzen der traditionellen Definition von Nachhaltigkeit, bei der natürliche Produktionsformen oder cleane digitale Lösungen als grüne Fortschrittstreiber agieren.

Diese Widersprüche begünstigen kontroverse, banalisierende und oftmals alte ideologische Debatten im Spannungsfeld zwischen einer Verklärung der Natur und Technologie als Übel oder Heilsbringerin. Diese werden der Komplexität, die der Wandel hin zu einer nachhaltigen Welt mit sich bringt, kaum gerecht.

Was ist zu tun?

Eine differenzierte, fallbezogene Betrachtung ist notwendig. Ziel ist die Verankerung des Nachhaltigkeitsgedankens in Wirtschaft und Gesellschaft. Anstatt auf universelle, «One-size-fits-all»-Strategien zu setzen, bietet sich eine Vielzahl an Ansätzen an, welche die Diversität an Möglichkeiten widerspiegeln – gestützt auf wissenschaftliche Erkenntnisse und überprüfbare Daten. Vor allem muss klar sein, dass technologische Lösungen allein nicht ausreichen werden. Der Klimawandel wird sich nur mit Verhaltensänderungen und einem Bewusstsein der Bevölkerung in Grenzen halten lassen.

  • 3. Grenzen der Leistungsgesellschaft: Lebensqualität statt Daten

Die individuelle Beurteilung der Leistung von Mitarbeitenden oder der eigenen Gesundheit weicht in der digitalen und virtuellen Welt einer umfassenden Vermessung von Produktivität, Infektionszahlen oder Verhaltensweisen von Individuen und Bevölkerungen. Gerade durch den vermehrten Einsatz von künstlicher Intelligenz werden entsprechende Daten zur Voraussetzung, um Leistung oder die Auswirkung von Therapien zu bewerten.

Allerdings lassen sich nicht alle Parameter, die solche Einschätzungen erlauben, auch quantifizieren: Entweder fehlen passende Messmethoden, die Effekte lassen sich nur über einen grossen Zeitraum beobachten oder die Komplexität ist durch die Vielzahl von Einflussfaktoren zu gross. Der Druck der Leistungsgesellschaft führt in der Folge aber dazu, dass primär die Verhaltensweisen oder Tätigkeiten erfasst werden, die auch gemessen werden können.

Dies begünstigt eine einseitige Beurteilung und Überbewertung des Messbaren und setzt falsche Anreize in der Bildung, am Arbeitsplatz oder im Gesundheitssystem. Gleichzeitig erhöht sich der Druck auf die Individuen, ihr Verhalten auf quantifizierbare Parameter auszurichten. Algorithmen, die bei Bewerbungsprozessen eingesetzt werden, beurteilen nur die Kriterien, die in den entsprechenden Formularen aufgelistet werden. Dabei wächst das Risiko, dass sich unsere eigenen Beurteilungskriterien auf die erfassbaren Fakten beschränken und dass falsche Anreize gesetzt werden.  

Was ist zu tun?

Der Wert des Nichtquantifizierbaren kommt zu kurz. Systeme zur Beurteilung und Messung von Leistung und Gesundheit müssen überdacht werden: Angefangen bei der Bildung bis hin zum Arbeitsumfeld braucht es Beurteilungskriterien, die quantitative und qualitative Werte miteinander verknüpfen. Die Grundlage dafür sind ganzheitliche Bewertungssysteme, die nicht nur das Volumen der Arbeit, sondern auch die Qualität oder den Nutzen von Tätigkeiten berücksichtigt.

Auch im Gesundheitssystem gilt es, qualitative Bewertungsraster zu etablieren, die nicht nur die körperliche Gesundheit, sondern auch die Lebensqualität beurteilen. Dies bedeutet auch, dass Erkenntnisse, die nicht nur auf grossen Datenmengen und statistischen Analysen beruhen, aufgewertet werden.