Wenn wir Schweizer an Argentinien denken, fallen uns zuerst Maradona, Messi und die fanatische Fussballkultur ein. Dazu saftige Steaks, kräftiger Malbec und die endlosen Weiten Patagoniens. Doch hinter dieser Leidenschaft und Schönheit verbirgt sich auch eine bittere Realität: Jahrzehntelange Misswirtschaft, Schuldenkrisen und Hyperinflation haben das Land wirtschaftlich zerrüttet – und Millionen Menschen in die Armut getrieben.
Wer heute durch Buenos Aires geht, spürt diese Widersprüche auf Schritt und Tritt. Zwischen prachtvollen Boulevards und historischen Theatern erstreckt sich mitten in der Hauptstadt die «Villa 31»: ein riesiger Slum, in dem Zehntausende ohne Perspektive leben.
Genau das wollte Javier Milei ändern, als er im Dezember 2023 die Präsidentschaft übernahm. Der libertäre Ökonom versprach, das Land mit der «Kettensäge» zu sanieren – Staatsausgaben kürzen, Bürokratie beseitigen, Inflation stoppen. Für dieses höchst umstrittene Experiment holte er sich einen Mann mit Schweizer Wurzeln an seine Seite: Federico Sturzenegger, den Enkel eines Auswanderers aus dem Dorf Reute im Kanton Appenzell Ausserrhoden. Der «Schweizer» gilt als Architekt des libertären Wirtschaftsprogramms, das Argentinien in Rekordzeit umkrempeln soll – und als einer der einflussreichsten, aber auch umstrittensten Köpfe im Milei-Team.
Sturzeneggers Mega-Dekret
Zwei Jahre nach Mileis Amtsantritt kommt es in Argentinien diesen Sonntag nun zu entscheidenden Parlamentswahlen – und Präsident Milei steht zusammen mit Sturzenegger mit dem Rücken zur Wand. Das Schicksal seiner radikalen Reformagenda hängt in der Schwebe. Verliert das Duo, dann droht der grosse Stillstand. Ohne Mehrheit im Parlament könnte Milei viele seiner Reformen nicht mehr durchsetzen. Privatisierungen, Steuerreformen und Deregulierungen stünden vor dem Aus. Auch internationale Partner, darunter die USA, haben signalisiert, dass ihre finanzielle Unterstützung vom Wahlausgang abhängt.
Argentinien war bei Mileis Amtsantritt ein Land auf der Intensivstation: Eine Inflation von über 250 Prozent, leere Staatskassen und eine zerbröckelnde Infrastruktur. Sturzenegger, seit Sommer 2024 gar Minister für Deregulierung und Transformation, war das Gehirn hinter dem umstrittenen Mega-Dekret «DNU 70/2023». Milei rief damit den Notstand aus. Die Regierung konnte so auf einen Schlag Hunderte Regulierungen aufheben – von Mietpreisen bis Importkontrollen. Kurz darauf folgte ein weiteres Gesetzespaket, das Privatisierungen, Arbeitsmarktreformen und Steuererleichterungen für Investoren ermöglichte.
«Wir haben fast 9000 Gesetze gelöscht oder verbessert», sagte Sturzenegger kürzlich in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger». «In den Bereichen, die wir dereguliert haben, sind die Preise um 30 bis 40 Prozent gesunken.» Für ihn ist die «Kettensäge» Mileis kein Symbol der Zerstörung, sondern der Befreiung. Die überbordende Bürokratie, so Sturzenegger, sei die wahre Wurzel der Korruption.
«Krieg gegen die Arbeitnehmer»
Tatsächlich hat sich einiges bewegt: Das Staatsdefizit ist Geschichte, Argentinien schreibt wieder einen Haushaltsüberschuss – das erste Mal seit Jahrzehnten. Die monatliche Inflation ist von 250 Prozent auf 2,1 Prozent im September 2025 gesunken. Doch der Preis für den Sparkurs ist hoch. Er hat Universitäten, Spitäler und Rentner besonders hart getroffen. Im April gingen Hunderttausende auf die Strasse. Gewerkschaften sprechen von einem «Krieg gegen die Arbeitnehmer».
Sturzenegger wies das gegenüber dem «Tages-Anzeiger» zurück. Drastisch sei der Sparkurs nur für Politiker gewesen. «Nicht für die Bevölkerung, denn die hat die hohen Ausgaben finanzieren müssen und wird jetzt entlastet.»
Doch die Realität auf der Strasse erzählt eine andere Geschichte. Auch im Jahr 2025 lebt jeder dritte Argentinier unter der Armutsgrenze. Sozialprogramme wurden stark gekürzt, viele Menschen können sich Grundnahrungsmittel kaum noch leisten. Besonders in der Provinz Buenos Aires hat Mileis Partei deswegen Stimmen verloren. Nach der Wahlniederlage im September versprach der Präsident, im kommenden Jahr wieder mehr Geld in Renten, Gesundheit und Bildung zu investieren. Ob diese Kehrtwende genug ist, um sich am kommenden Sonntag bei den Parlamentswahlen zusammen mit seinen Partnern die Mehrheit zu sichern?