Wer die aktuellen steuerpolitischen Debatten verfolgt, erhält den Eindruck, Steuern seien dafür da, das Verhalten der Bürger zu lenken. Die Einführung der Individualbesteuerung wird damit begründet, dass (angeblich) die Erwerbstätigkeit von Frauen zunehmen werde. Die steuerliche Mehrbelastung von traditionell lebenden Ehepaaren im Vergleich zu Doppelverdienenden wird dafür hingenommen. Die weitgehende Begrenzung der Abzugsfähigkeit von Schuldzinsen in der aktuellen Vorlage zur Abschaffung des Eigenmietwertes wird damit begründet, dass der Anreiz zur Verschuldung vermindert werden soll. Vergessen geht, dass die verschuldeten Haushalte Schuldzinsen bezahlen müssen, was kaum jemand freiwillig tut.

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Man könnte sich noch viele «anreizorientierte Steuerreformen» vorstellen: Die Abzüge für den Arbeitsweg könnten gestrichen werden, damit die Bürger gefälligst nahe am Arbeitsplatz wohnen und nicht lange Arbeitswege in Kauf nehmen. Rentnern könnten Steuerabzüge gewährt werden, wenn sie im Rentenalter weiterarbeiten, obschon ihr Einkommen dadurch höher wird. Der FDP-Ständerat Damian Müller fordert bereits einen Steuerabzug für Vollzeiterwerbstätige, damit weniger teilzeitlich gearbeitet wird. Er könnte ebenso gut verlangen, dass Teilzeiterwerbstätige auch für die Zeit besteuert werden, in der sie nicht arbeiten.

Das Problem: Wo bei Steuerreformen Anreize im Vordergrund stehen, leidet die Steuergerechtigkeit. Und das Steuersystem wird in der Regel weniger transparent. Deshalb sollten bei allen Steuerreformen zwei Ziele im Vordergrund stehen: Gerechtigkeit – und die Einfachheit sowie die Transparenz des Steuersystems.

Der Gastautor

Serge Gaillard ist Ökonom und ehemaliger Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung.

Das wichtigste Kriterium für die Beurteilung einer Steuerreform ist, ob die Besteuerung dem Prinzip der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entspricht. Dieses besagt im Wesentlichen, dass Steuerpflichtige mit der gleichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit in gleichem Ausmass zur Finanzierung der öffentlichen Aufgaben beitragen sollen. Wer über eine höhere Leistungsfähigkeit verfügt, bezahlt höhere Steuern, als wer über eine geringere Leistungsfähigkeit verfügt.

Wenden wir diese zwei Kriterien auf den Eigenmietwert und den Schuldzinsabzug an, wird sichtbar, dass wir uns mit der Gesetzesrevision, über die in zehn Tagen abgestimmt wird, von diesen Grundprinzipien entfernen.

Beispiel Eigenmietwert: Zwei Ehepaare haben ein jährliches Bareinkommen von 80’000 Franken. Das eine Ehepaar zahlt jährlich 24’000 Franken Miete, das andere Ehepaar besitzt eine schuldenfreie Wohnung. Es zahlt weder Miete noch Schuldzinsen. Es scheint doch offensichtlich, dass das zweite Ehepaar über eine höhere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügt. Entsprechend sollte es etwas höhere Steuern bezahlen. Das ist heute der Fall, nach der Abschaffung des Eigenmietwertes wird es nicht mehr der Fall sein.

Beispiel Schuldzinsabzug: Wir vergleichen wieder zwei Ehepaare mit einem jährlichen Bareinkommen von 80’000 Franken. Beide besitzen eine eigene Wohnung. Das erste Ehepaar hat alle Schulden abbezahlt, das zweite bezahlt jährlich 12’000 Franken Schuldzinsen. Auch hier ist offensichtlich, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des zweiten Ehepaars tiefer ist als diejenige des ersten. Deshalb macht der Schuldzinsabzug Sinn, die Steuerlast sollte beim verschuldeten Ehepaar tiefer sein.

Viele bezeichnen die Vorlage für die Abschaffung des Eigenmietwerts als ausgewogen. Mit der Abschaffung des Eigenmietwerts werden Eigentümer begünstigt, mit der Reduktion des Schuldzinsabzugs werden sie benachteiligt. Das mag per saldo stimmen. Nur: Für die einzelnen Bürger heben sich die beiden Faktoren selten auf. Die einen gewinnen, die anderen verlieren. Und beides hat mit Steuergerechtigkeit wenig zu tun.

Abgesehen davon ist es naiv, diese Vorlage als ausgewogen zu bezeichnen: Sobald die Zinsen wieder steigen, wird es schwer zu erklären sein, wieso Schuldzinsen nur sehr begrenzt vom Einkommen abgezogen werden können. Spätestens in einer nächsten Immobilienkrise wird daher der Ruf laut werden, wieder höhere Schuldzinsabzüge zuzulassen. Der Eigenmietwert wird aber nie mehr eingeführt werden. Deshalb investiert der Hauseigentümerverband so viel Geld in diese Kampagne.