«Mann und Frau sind gleichberechtigt», heisst es seit 1981 in der Bundesverfassung. 1996 wurde das Gleichstellungsgesetz (GlG) eingeführt. So viel zur gesetzlichen Theorie. Wie sieht die gelebte Realität aus?

Rechtlich sind Frauen und Männer heute weitgehend gleichgestellt. Doch die Bundesverfassung verlangt nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine tatsächliche Gleichstellung, also eine in der sozialen Wirklichkeit, im Alltag umgesetzte Gleichstellung. Und dort gibt es noch viel Handlungsbedarf.

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Wo sind die Baustellen?

Die Statistik zeigt: In 70 Prozent der Fälle von häuslicher Gewalt ist die betroffene Person weiblich. Von sexueller Belästigung sind zu über 90 Prozent Frauen betroffen. Männer verdienen im Schnitt 18 Prozent mehr als Frauen. Wenn Frauen Kinder haben, reduzieren sie oft ihre Arbeit oder geben sie ganz auf, haben dafür später ein viel geringeres Vorsorgeeinkommen und ein Risiko für Altersarmut. Frauen sind in Tieflohnbranchen über- und in Kaderstellen untervertreten.

Worauf führen Sie diese Unterschiede zurück?

Gesellschaftliche Veränderungen passieren langsam. Althergebrachte Rollenbilder, die Vorstellungen davon, was sich für Frauen und Männer «gehört», sind sehr stark verankert. Unser gesamtes System wurde auf dem Prinzip aufgebaut, dass der Vater als «Ernährer» für den Unterhalt sorgt und sich die Mutter um Haus und Kinder kümmert. Eltern, die sich nicht an dieses Prinzip halten, haben Schwierigkeiten, sich zu organisieren: kaum verfügbare und sehr teure Kinderbetreuung, höhere Steuerbelastung und so weiter. Der Übergang zu einem neutralen oder ausgeglichenen System erfordert Zeit und viele Änderungen.

Sylvie Durrer, Direktorin  Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann
Quelle: ZVG

Gender-Spezialistin

Name: Sylvie Durrer
Funktion: Direktorin Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann
Alter: 63
Ausbildung: Promotion in französischer Linguistik und Abschluss in Public Policy Management, Universität Lausanne

Das Amt Das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann EBG ist zuständig für die Gleichstellung der Geschlechter. Es engagiert sich insbesondere für die Förderung der Gleichstellung im Erwerbsleben, für die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen und für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt.

Beim Wahl- und Stimmrecht mussten Schweizerinnen im Vergleich zu ihren Nachbarinnen überdurchschnittlich lange kämpfen – hundert Jahre, um genau zu sein. Auch die konkrete Umsetzung des Gleichstellungsgesetzes scheint ein kontinuierlicher Kampf zu sein.

Immer wenn es darum geht, Rechte und Pflichten neu aufzuteilen, gibt es Debatten. Das liegt in der Natur der Politik. Doch das Beispiel Frauenstimmrecht zeigt auch: Es lohnt sich, dranzubleiben. Es gibt immer wieder Fortschritte: Vor 2004 gab es beispielsweise noch nicht einmal einen Mutterschaftsurlaub, und heute befinden wir uns mitten in der Diskussion um die Elternzeit für beide Elternteile.

Was könnte Ihrer Meinung nach den Weg zu einem ausgeglichenen System beschleunigen?

Wir müssen uns auf die Fakten stützen und zeigen, dass die fehlende Gleichstellung sowohl für Einzelpersonen als auch für die Gesellschaft als Ganzes hohe Kosten verursacht: der Mangel an Arbeitskräften oder das Risiko der Altersarmut, um nur zwei Beispiele zu nennen. Um bei der Gleichstellung Fortschritte zu erzielen, braucht es die vereinten Kräfte aller: Zivilgesellschaft, Sozialpartner, Parlament, Regierung – und aller Bürgerinnen und Bürger.

Reichen Frauenquoten, um Chancengleichheit zu erreichen?

Quoten sind lediglich ein Instrument (unter vielen), um die Chancengleichheit zu erhöhen. Sie funktionieren nicht überall gleich, können aber in bestimmten Bereichen nützlich und effektiv sein, etwa in Verwaltungsräten. Für die Gleichstellung ist eine bessere Durchmischung der Geschlechter auf allen Verantwortungsebenen und in allen Sektoren wichtig. Durchmischung bedeutet ein Mehr an Erfahrung und Perspektiven und ausgewogenere Entscheidungen. Der Grundstein dafür wird bereits im Kindesalter gelegt, in der Familie und in der Schule. Dort werden die Bilder von «typisch weiblichen» oder «typisch männlichen» Berufen und Lebensentwürfen geprägt.

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Taten statt Quoten

Die Ringier-Initiative treibt die Gleichstellung von Männern und Frauen voran.

Was das Rentenalter anbelangt, sind Frauen nun gleichauf mit den Männern. Kommt als Nächstes die Wehrpflicht für Frauen?

Nach Rechtsprechung des Bundesgerichts ist die Militärdienstpflicht eine zulässige Ausnahme vom Grundsatz der Gleichbehandlung der Geschlechter. Aktuell werden verschiedene Optionen für die Zukunft der Militärdienstpflicht geprüft. Der Bundesrat klärt bis Ende 2024 die Möglichkeit ab, den Orientierungstag für Frauen und Männer verpflichtend zu machen, sowie die Möglichkeit, die Wehrpflicht auf Frauen auszudehnen.

2018 erhielt das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) für sein Engagement in Sachen Lohngleichheit den «Public Service Award» der UNO. Und doch scheint die Situation wenig Fortschritte zu machen. Woran liegt das?

Der Grundsatz der Lohngleichheit für Frau und Mann ist seit 1981 in der Bundesverfassung verankert und seit 1996 im Gleichstellungsgesetz konkretisiert. Seit der Revision des Gleichstellungsgesetzes, welche 2020 in Kraft getreten ist, müssen Unternehmen mit hundert oder mehr Mitarbeitenden eine Lohngleichheitsanalyse durchführen. Das Gesetz sieht aber weder eine Übermittlung der Ergebnisse an den Bund noch Sanktionen vor. Das Parlament hat bei der Revision auch keine Analysen für kleine Unternehmen vorgesehen, wo die Lohnungleichheiten besonders gross sind.

Mit der Gleichstellungsstrategie 2030 will der Bundesrat die Gleichstellung von Mann und Frau gezielt fördern – auch was den Lohn anbelangt. Welches sind die Kernelemente?

Die Strategie konzentriert sich auf vier zentrale Themen: die Förderung der wirtschaftlichen Autonomie der Frauen, die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die Prävention von Gewalt und die Bekämpfung von Diskriminierung. Mittlerweile sind über 180 Massnahmen enthalten. Diese stammen aus allen Departementen der Bundesverwaltung, aus vielen Kantonen und Städten.

Welche Massnahmen machen Ihres Erachtens Sinn, welche weniger?

Gleichstellung ist ein Thema, das sämtliche Lebensbereiche berührt. Deshalb sind alle Massnahmen notwendig, um das Ziel der Gleichstellung zu erreichen. Wir sind mit der Strategie auch längst nicht am Ende angelangt: Sie ist ein dynamisches Instrument, es kommen immer wieder neue Massnahmen hinzu.

EqualVoice United

Die «Handelszeitung» ist Medienpartnerin der Initiative EqualVoice United. Die Initiative setzt sich für mehr Sichtbarkeit von Frauen in der Wirtschaft ein. Grosse Schweizer Unternehmen schliessen sich dem Anliegen an. Weitere Informationen und wie Ihr Unternehmen Teil der Initiative EqualVoice United wird, finden Sie hier

Welches sind die effizientesten Hebel, um bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf Gleichheit zu schaffen?

Es muss für Männer wie für Frauen möglich sein, sich im Berufsleben, in der Familie und im Haushalt zu engagieren. Dadurch gewinnen Frauen mehr finanzielle Eigenständigkeit und Männer müssen nicht mehr automatisch die Hauptlast der Verantwortung für das Familieneinkommen tragen. Gelingen kann Vereinbarkeit unter anderem durch die Schaffung familienfreundlicher Rahmenbedingungen wie zum Beispiel qualitativ guter und bezahlbarer familienergänzender Betreuungsangebote. Auch flexible Beschäftigungsformen sowie eine sich wirtschaftlich lohnende Teilzeitarbeit für beide Geschlechter können hier helfen.

Männer, die ihren Job für die Kinder aufgeben, werden gefeiert, bei Frauen ist das «normal». Woran liegt das?

Was für Frauen und Männer als «normal» gilt, hängt mit tief verankerten Rollenvorstellungen zusammen – Vorstellungen davon, was man als Zugehörige oder Zugehöriger eines Geschlechts besonders gut kann oder können sollte. Diese Rollenbilder werden Kindern oft schon von klein auf vermittelt.

Was muss geschehen, damit hier ein Umdenken stattfindet?

Aus Gleichstellungsperspektive ist es wichtig, dass Kinder möglichst frei von solchen Stereotypen aufwachsen können, damit auch die Berufswahl, das Familienmodell, die Karriereplanung möglichst frei gewählt werden können, entsprechend den persönlichen Fähigkeiten und Vorstellungen. Das vierte Handlungsfeld der Gleichstellungsstrategie 2030 fokussiert deshalb auf den Abbau von Diskriminierung, Sexismus und Geschlechterstereotypen. Die Entscheidungsfreiheit für jede Einzelne und jeden Einzelnen ist das Ziel der Gleichstellungspolitik von Frauen und Männern.

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