Betrachtet man über die vergangenen Jahre die Managementliteratur, so begegnen uns mit dem Begriff der Agilität sowie seinem kongenialen Partner «VUCA» auffallend häufig zwei Schlagworte, die in kaum einer Hinführung zum Thema Führung und Zusammenarbeit fehlen. VUCA meint eine Kurz-Diagnostik der Herausforderungen für Organisationen in der digitalen Transformation und skizziert das unternehmerische Umfeld als volatil, unsicher, komplex und vieldeutig. Wäre das Akronym nicht an einer amerikanischen Militärakademie geprägt worden, so hätte es die Beratungsindustrie erfinden müssen (welche es dann eben doch «nur» ihren Kunden gegenüber agil verbreitet hat); denn VUCA trifft den Nerv des Zeitgeistes und generiert zumindest Problembewusstsein, manchmal Alertheit, mancherorten gar Hyperventilation. Eine gute Basis zur Auftragsakquise für uns Beraterinnen und Berater, zumal oftmals eine Lösung schon gleich mitgeliefert werden kann: Agilität.
Gegenüber dem einigermassen klar operationalisierbaren Begriff VUCA hat der Begriff der Agilität den Nachteil, dass er nicht nur von Publikation zu Publikation, sondern auch von Organisation zu Organisation, von Team zu Team, von Mensch zu Mensch unterschiedlich verstanden wird: Ein Schlagwort, das an manchen Orten der Allzweck-Hammer für jene Nägel zu sein scheint, auf denen VUCA steht. Agilität wird zum hypertrophen Konzept; scheint überall zu passen.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

 

Beweglichkeit auf Organisationsebene

Der vorliegende Beitrag will in prägnanter Form ernst nehmen und klären, worum es aus arbeits- und organisationspsychologischer Sicht im Kern bei der Diskussion um agile Führung und Zusammenarbeit gehen soll. In einer ersten Näherung ans Thema möchte ich Agilität mit Beweglichkeit «übersetzen». Und zwar Beweglichkeit in ganz bestimmter Hinsicht: Es geht um die Beweglichkeit der Organisation selbst; damit also um die Beweglichkeit des Führungssystems eines Unternehmens sowie der Art und Weise, wie Kooperationen gegen innen und aussen gestaltet werden. Um zu vermeiden, dass wieder alles und jedes in den Begriff hineingelesen werden kann, soll der Begriff also ausdrücklich nicht auf die personalen Voraussetzungen oder Verhaltensweisen Einzelner bezogen werden. Hierfür kennt die Psychologie aus ihren Assessment-Methoden bereits hinlänglich erprobte Konzepte wie Gestaltungsmotivation, Ambiguitätstoleranz, Flexibilität etc.
Kann nun aber Agilität auf Ebene des Führungssystems ein vernünftiges Ziel sein? Und wenn ja, in welcher Hinsicht genau? Für Hochleistungssportler ist das Ziel das Ziel und Agilität ist einer der Wege, dieses zu erreichen. Agilität ist somit auch für Unternehmen sicher kein Ziel an sich. Es beschreibt jedoch ein bestimmtes «how», eine Art und Weise, wie unternehmerische Ziele erreicht werden sollen. Worauf zahlt gelingende Agilität dann ein? Oder anders: Was ist denn das eigentliche Ziel?

 

Lähmende Hierarchien

Wie wir mit dem deutschen Soziologen und Systemtheoretiker Luhmann wissen, bestehen Unternehmen im Kern aus nichts weniger – aber eben auch aus nichts mehr – als aus der Prozessierung von Entscheidungen. Damit ist gemeint: Organisationen entstehen, prosperieren und vergehen im Kern dadurch, dass in ihnen Entscheidungen vorbereitet, herbeigeführt, kommuniziert, begründet, verhandelt, durch- und umgesetzt werden. Organisationen lösen dabei – in formaler Hinsicht – das Problem der Autorität, indem sie Entscheidungskompetenzen verteilen, also mit Positionsmacht ausstatten, um so Verantwortungsbewusstsein und -übernahme zu erzeugen. Funktioniert das System, so kann schnell auf Veränderungen (innerhalb oder ausserhalb des Unternehmens) reagiert werden; funktioniert es nicht, so wird die Organisation in mehr oder weniger grossem Ausmass paralysiert und damit ihrer Zukunftsfähigkeit beraubt.
Auf den VUCA-Kontext, in dem Unternehmen heute stehen, können Unternehmen keinen Einfluss nehmen; allerdings ist die Art und Weise, wie sie zu Entscheidungen kommen, sehr wohl beeinflussbar. Und da kommen wir zum Problem des Problems: die Langsamkeit und Schwerfälligkeit sehr vieler Unternehmen in der Entscheidungsfindung; eine der Ursachen: komplizierte Hierarchien.

 

Hausgemachte Kompliziertheit

Grossunternehmen und Konzerne haben über die Jahre zum unvermeidlich komplexen, globalisierten und digitalisierten Kontext, in dem sie stehen, noch eine ganz erhebliche Prise Kompliziertheit hinzugefügt. Diese Kompliziertheit manifestiert sich nicht selten in Form von auch für Eingeweihte kaum durchschaubare, mehrdimensionale Matrixorganisationen, bei denen die Kreativität ihrer Erzeuger neben durchgezogenen und gepunkteten auch noch unterschiedlich gestrichelte Führungsbezüge und Abhängigkeiten erfunden hat. Man kann also davon ausgehen – und das sind dann die good news – dass die Kompliziertheit hausgemacht ist; und was hausgemacht ist, lässt sich beeinflussen. Das ist eben nicht mehr einfach nur VUCA, sondern abhängig von unternehmerischen Entscheiden zur Wahl der Aufbau- und Ablauforganisation, des Führungssystems und den gewählten Formen der Kooperation. Alarmzeichen sollten aufleuchten, wenn mit Entscheidungen allzu häufig zwischen den hierarchischen Ebenen Flipper gespielt wird, eine Geschäftsleitung beginnt, über die Formatierungsregeln für CO-Objekte zu diskutieren oder aber die in funktional differenzierten Unternehmen unvermeidlichen Silos langsam zu Bunkern geworden sind.
Alle folgenden Ausführungen beziehen sich explizit auf die Agilität des Führungssystems und der Organisationsstrukturen, in denen Entscheidungen erzeugt werden. Dieser Rahmen, der aktiv gestaltet werden kann, soll dann darin resultieren, dass er Menschen in Unternehmen unterstützt, situativ angemessen und in der Regel auch zeitnah Entscheidungen herbeizuführen, um auf wechselnde Bedürfnisse, Anforderungen und Opportunitäten im Arbeitsfeld sowie am Markt zu antworten und so unternehmerische Ziele zu erreichen. Dieses Verständnis von Agilität trägt auch ein Forschungsprogramm, das wir zurzeit an der Fachhochschule Nordwestschweiz verfolgen.

 

Zwischen Agilität und Stabilität

Wenn wir uns nun fragen, wie es Unternehmen gelingen kann, in oben ausgeführtem Sinne Beweglichkeit in ihre Entscheidungsprozesse zu bringen, dann braucht es noch einen kleinen gedanklichen Umweg. Denn uns in dialektischem Denken ausgebildeten Menschen geht hier sofort das Risiko durch den Kopf, dass der einseitige Ruf nach Beweglichkeit auch in einer blossen Verklärung desorientierter Sprunghaftigkeit enden könnte. Und somit gilt – wie in der Schweiz, so auf der ganzen Welt: Tunnel werden von zwei Seiten gebohrt! Es braucht den Balanceakt zwischen Agilität und Stabilität, um auf eine gute Art und Weise Entscheidungen in Unternehmen herbeizuführen.
Entscheidungen in Organisationen werden zum einen im Rahmen eines Führungssystems getroffen, das strukturell veränderbar und kulturell beeinflussbar ist. Faktisch getroffen werden Entscheidungen jedoch im Alltagshandeln der Menschen in Organisationen, ob sie nun Führungsverantwortung haben oder nicht. Die Strukturen des gewählten Führungssystems erzeugen kulturelle Selbstverständlichkeiten und resultieren immer auch in mehr oder weniger Systemvertrauen. Diese Form von Vertrauen unterscheidet sich ja bekanntlich vom personalen Vertrauen darin, dass es nicht an eine bestimmte Person gebunden ist, sondern sich auf die wahrgenommene Zuverlässigkeit des Gesamtsystems bezieht. Kann «man» sich eigentlich grosso modo darauf verlassen, wie «bei uns» entschieden wird? Haben «wir» insgesamt eine positive Zukunftserwartung, wenn es um die Findung richtungsweisender Entscheide für das Unternehmen geht? Aber auch: Habe ich den Eindruck, dass «man» den Mitarbeitenden im Unternehmen zutraut, ihre lokalen Entscheidungen auf Basis ihrer Fachexpertise auch im Sinne der Unternehmensziele in verantwortungsvoller Weise zu treffen?

 

Vertrauen braucht Vertrauen

Um diese Fragen positiv beantworten zu können, geht es auch um Agilität, jedoch in der Regel vielmehr um Zutaten, die Stabilitätserwartungen in Unternehmen bedienen. Vergessen wir nicht, dass jedes Unternehmen zunächst einmal das Ziel verfolgt, sich zu reproduzieren, also auch morgen noch zu existieren. Und der wichtigste Mechanismus, um Stabilität zu erzeugen, sind nun einmal: Entscheidungen. Sie bringen das Unternehmen voran und absorbieren zugleich die VUCA-gegebene Unsicherheit des Umfelds, da Entscheidungen mit ihren Festlegungen – zumindest vorübergehend – die gesamte Komplexität aus Optik Unternehmen sinnvoll ausblenden.
Das konkrete Handeln von Führungskräften und Mitarbeitenden in Entscheidungsprozessen ist dann – und das zeigen viele Erkenntnisse der Arbeits- und Organisationspsychologie – stark davon beeinflusst, wie es mit dem strukturell gewährleisteten Führungs-, Handlungs- und Entscheidungsspielraum bestellt ist. Wer will, dass vertraut wird, kann dies nur durch (die Vorleistung) eigenen Vertrauens herstellen. Vertrauen braucht Vertrauen. Ist dieses vorhanden – und sind die Mitarbeitenden also wirklich strukturell «empowered» – so steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen auch die erforderliche Verantwortung übernehmen. Vertrauen und bewusste, aktive Verantwortungsübernahme sind einander begünstigende Prozesse, die – und das ist das Risiko – wie alles andere auch scheitern können. Sonst bräuchte es weder Vertrauen noch Verantwortung. Und auch hier wieder Dialektik: Die Frage danach, ob Verantwortungsübernahme auf Vertrauensvorschuss aufbaut oder umgekehrt, ist wenig zielführend: Es entsteht eine sich selbst verstärkende positive oder negative Rückkopplungsspirale.

 

Gleichgewicht finden

Nun haben wir also unseren Balanceakt des Entscheidens in einer VUCA-Welt: Es braucht zum einen Agilität im Sinne der Beweglichkeit des Führungssystems und der Organisation, um auf innere und äussere Veränderungen angemessen, «mindful» und effektiv reagieren und angestrebte Veränderungen proaktiv gestalten zu können. Und das Führungssystem sollte zugleich Stabilitätserwartungen bedienen und dazu beitragen, Orientierung zu schaffen und das Verstehen der Sinnhaftigkeit von Entscheidungen zu fördern. Alternativlose Entscheidungen sind wie alternative Fakten und die englische Küche: Es gibt sie nicht. Stabilitätserwartungen wollen die Verbindlichkeit von Entscheidungen, die sich erst in der Umsetzung inklusive Evaluation der Wirkungen zeigt: Darum will der Sprint im Scrum auch die schnelle Retrospektive.
Das Organisieren von Führung in der Digitalisierung bedeutet immer mehr – angesichts des im Balanceakt zwischen Agilität und Stabilität entstehenden Spannungsfeldes – die Dinge kooperativ zu gestalten. Entsprechend soll die Bedeutung von Kooperation, Selbstorganisation und Vernetzung in der kommenden Ausgabe der «Schweizer Versicherung» diskutiert werden. Die Gestaltung eines beweglichen Führungssystems soll es eben auch ermöglichen, sinnvolle Kooperationen zu erzeugen, um sich mit Marktdynamiken angemessen weiterentwickeln zu können. Und dies ist im Kern eben eine Frage der Entscheidung.

PROF. DR. CHRISTOPH CLASES ist Dozent an der Hochschule für Angewandte Psychologie – FHNW. Zudem ist er seit 2009 Partner der AOC Unternehmensberatung in Zürich.