Tiktok, Alibaba, Wechat, Baidu, Lenovo oder Xiaomi: Die Tech-Schlagzeilenlieferanten kommen nicht mehr ausschliesslich aus den USA und schon gar nicht mehr aus Europa. In den letzten Jahren etablierten sich immer mehr chinesische Unternehmen als Schrittmacher im ICT-Bereich. «Drei der weltweit zehn wertvollsten Startups kommen aus China», unterstreicht Felix Moesner. Laut dem China-CEO von Swissnex – dem Schweizer Netzwerk für die Umsetzung der Bundespolitik im Bereich der internationalen Bildungs-, Forschungs- und Innovationszusammenarbeit – ist dies ein klarer Beleg dafür, dass die Tech-Firmen aus dem Reich der Mitte längst nicht mehr bloss westliche Produkte kopieren. 

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So gilt etwa Huawei inzwischen im Bereich der neuen 5G-Mobilfunknetzwerke als globaler Technologieführer. Der Tencent-Konzern hat mit Wechat eine Messenger-Applikation geschaffen, die weit über das hinausgeht, was der US-Branchenprimus Whatsapp bietet. Über die Smartphone-App erledigen die Chinesen heute vom Shopping über Geldüberweisungen bis hin zu Kino- oder Flugbuchungen und Visaanträgen fast ihren ganzen Alltag. Der Internethändler Alibaba überschwemmt derweil die ganze Welt mit Produkten aus den chinesischen Lieferketten. Und mit dem schnellen Videoschnipselspass Tiktok lässt jetzt sogar erstmals eine chinesische Social-Media-App die westliche Konkurrenz alt aussehen. 

Trends mit drei bis fünf Jahren Vorlauf

Wer wissen will, wohin die Technologiereise geht, tut also gut daran, nicht mehr nur auf die Entwicklungen im Silicon Valley zu schauen, sondern seine Fühler in Richtung China auszustrecken. Bereits 2016 hat Swisscom einen Outpost in Schanghai aufgebaut. Während der 1998 gegründete Silicon-Valley-Outpost Startup-Firmen für Geschäftspartnerschaften und Investitionen evaluiert, konzentriert sich die zweite internationale Tech-Beobachtungsstation des Schweizer ICT-Konzerns vor allem auf die Businessmodelle und Konsumententrends im grössten Mobilfunkmarkt der Welt. «Neuartige Anwendungen und Geschäftsmodelle entstehen in China drei bis fünf Jahre bevor sie in der Schweiz zum Thema werden», erklärt Yanqing Wyrsch, die den Aussenposten leitet. Der chinesische Markt weist mit fast einer Milliarde Smartphone-Nutzern nämlich nicht nur ein beachtliches Ausmass auf. Neue Technologien werden von den Anwendern auch ausserordentlich schnell angenommen. 

Geschäftsmodelle entstehen in China drei bis fünf Jahre bevor sie in der Schweiz zum Thema werden. 

Yanqing Wyrsch, Leiterin Outpost Schanghai

Unsere Jungunternehmen können von den Kaliforniern vor allem lernen, gross zu denken. 

Lukas Peter, Leiter Outpost Silicon Valley

Keine Bedenken gegen Gesichtserkennung

Aktuell erfreut sich beispielsweise das Livestreaming im E-Commerce einer grossen Beliebtheit. Vor allem die Jungen nutzen diese mit direkten Interaktionen und medienbruchfreien Kaufmöglichkeiten aufgemotzte Smartphone-Variante des Teleshoppings intensiv. Am auffälligsten ist die schnelle Adaption von Neuem allerdings derzeit beim bargeldlosen Bezahlen. Hier ersetzt das eigene Gesicht zunehmend die herkömmlichen Handy-Bezahlfunktionen. 

«Im Unterschied zu Europa oder den USA sind die Akzeptanz und auch der Durchdringungsgrad von Gesichtserkennungstechnologien in China sehr hoch», erklärt Wyrsch. «Sie gehören in Läden, Bahnhöfen, Kantinen, Banken, Hotels und Veranstaltungshallen zwecks Identifizierung und Bezahlen zum Alltag.» 

Bedenken hinsichtlich der Privatsphäre gibt es kaum. Die Chinesen schätzen vielmehr die zusätzliche Bequemlichkeit, Effizienz und Sicherheit. Demgegenüber hat die kalifornische Metropole San Francisco, die quasi das Eingangstor zum Valley bildet, den Einsatz von Gesichtserkennungstechnologien durch städtische Behörden verboten. Der Eingriff in die Privatsphäre und die Gefahr des Missbrauchs seien zu gross. 

Durch diese unterschiedliche Beurteilung entstehen ungleich lange Spiesse im Bereich der künstlichen Intelligenz (KI), zeigt sich der Leiter des Silicon-Valley-Outposts von Swisscom, Lukas Peter, überzeugt. «Mit dem praktisch unbegrenzten Zugriff auf Daten erhält China die Chance, im Bereich der KI erstmals auch Forschungspionier zu werden. Hier ist eine für die ganze Welt entscheidende Entwicklung im Gang.» 

Mit staatlicher Planung auf die Überholspur

Die Frage ist, ob letztlich das auf grosse Technologiekonzerne stützende marktwirtschaftliche Modell des Westens, das individuelle Freiheiten und eine Privatsphäre hoch gewichtet, oder der vom Staat gelenkte Ansatz der Chinesen erfolgreicher sein wird. Eine Analyse des Center for Security Studies der ETH Zürich kam jedenfalls schon 2018 zu dem Schluss, dass der Vorsprung der US-Konzerne in Sachen KI am Schwinden ist. 

Während China 2017 einen dreistufigen Next-Generation-KI-Plan formulierte, in den sämtliche massgeblichen Unternehmen eingebunden sind und mit dem die USA bis 2025 technologisch überholt werden sollen, haben die Amerikaner erst zu Beginn dieses Jahres mit einer Steigerung der staatlichen Forschungsinvestitionen reagiert. Einen entsprechenden Plan der Obama-Administration hatte Präsident Trump laut der ETH-Analyse noch zu Beginn seiner Amtszeit archiviert. 

Rivalität wird immer offener ausgetragen

Vor dem Hintergrund einer immer stärker werdenden Rivalität im KI-Bereich ist auch die Drohung der US-Regierung zu sehen, eine chinesisch kontrollierte Tiktok-App in den USA zu verbieten. Peter beobachtet die wachsenden Spannungen zwischen den zwei Technologiegrossmächten allerdings schon länger. «China hat einerseits massiv in US-Startups investiert und ist dadurch in den Besitz von Technologien gekommen. Die USA begegnen dieser Entwicklung jetzt vor allem im Bereich der Prozessorentechnologien und der KI. Auf der anderen Seite zeichnet sich ab, dass China immer mehr ICT-Talente aktiv aus den USA zurückholt. Tencent, Alibaba und Baidu zahlen heute doppelt so hohe Gehälter wie die Valley-Firmen.» 

Mutig, schnell und ohne Angst vor Fehlern

Die enormen Unterschiede in Sachen Datenschutz und im Umgang mit der Privatsphäre sind nach Ansicht von Wyrsch auch einer der Gründe, weshalb sich chinesische Geschäftsideen nicht eins zu eins in der Schweiz übernehmen lassen. «Wir können uns von den chinesischen Innovationen inspirieren lassen, müssen sie aber sorgfältig analysieren und unseren Verhältnissen anpassen.» 

Lernen könnten wir Schweizer indes ganz konkret von der Startup-Kultur. «Chinesische Jungunternehmer sind überaus neugierig und agil. Sie arbeiten viel und haben dabei keine Angst vor Fehlern. Hinzu kommt eine ausgeprägte Kundenorientierung.» Dies deckt sich mit der Erfahrung von Swissnex. Ein Scheitern werde, wie in den USA auch, als Teil des Erfolgs betrachtet und zum Teil sogar zelebriert, so Moesner. Dynamische Marktentwicklungen würden viel flexibler aufgenommen und die Geschwindigkeit der Kommerzialisierung innovativer Ideen sei massiv höher. 

Aus beiden Welten das Beste herausholen

Auch wenn die Jungunternehmen in China und den USA in Sachen Fehlerkultur und Umsetzungsgeschwindigkeit einander sehr ähnlich sind, dürfte sich in Zukunft aus machtpolitischen Gründen in der ICT genauso wie in der internationalen Politik ein Duopol herausbilden. Bestimmte Technologien werden sich vielleicht sogar ganz aufspalten. 

Um aus beiden Welten das Beste herausholen zu können, müssen Schweizer Unternehmen und Wissenschafter beide Innovationshubs möglichst gut kennen. «China ist für Swisscom unter anderem im Bereich Smart Cities, 5G und IoT sehr interessant», unterstreicht Wyrsch. 

Für Peter stellt allerdings das Valley nach wie vor die Champions League für Startups dar. «Was hier Erfolg hat, kommt zwangsläufig auch in die Schweiz. Unsere Jungunternehmen können von den Kaliforniern vor allem lernen, gross zu denken und die ganze Welt ins Visier zu nehmen.» 

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