Es sei eine romantische Vorstellung, zu glauben, dass die Schweiz China ändern könne, hielt Bundespräsident Ignazio Cassis beim Delegationstreffen mit dem Europa Forum vorletzte Woche im Bundeshaus fest. «Nicht umsonst sagen wir im Volksmund: Ich verstehe nur Chinesisch. Das zeigt auf, wie grundlegend unterschiedlich unser Vokabular, aber auch unsere Philosophien sind», fügte er an. Die beiden Welten würden sich massgeblich unterscheiden und dennoch sei die Schweiz seit Jahrzehnten wirtschaftlich eng mit der Volksrepublik China verflochten. «Die Volksrepublik ist der drittwichtigste Handelspartner der Schweiz und hat damit massgeblich zum Wohlstand der Schweizer Bevölkerung beigetragen», so der Bundespräsident weiter.

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Farbe bekennen in der China-Frage

Anlass dieses Austauschs war das Impulspapier, das die nationale Dialog- und Impulsplattform Europa Forum zu ihrem Jahresthema 2021 «Die Schweiz und Europa im Banne Chinas» verfasste. Inhalt dieses Papiers sind zehn handlungsorientierte Thesen (siehe Box), die aus den vielfältigen Impulsen vom Annual Meeting, den fachkundigen Meinungsbeiträgen von Asienfachleuten aus den Bereichen Wirtschaft, Politik, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und der Generation Zukunft sowie aus Interviews mit langjährigen Chinakennern aus dem In- und Ausland herausdestilliert wurden.

Das 24-seitige Dokument soll dem Bundesrat Impulse für den künftigen Umgang mit einem immer selbstbewusster auftretenden China geben. Thematisiert werden darin relevante Fragestellungen für die EU und die Schweiz, etwa «Wie positionieren sich Europa und die Schweiz angesichts der drohenden geopolitischen Bipolarität zwischen China und den USA?», «Wie verbinden wir wirtschaftliche Interessen mit unserem Glauben an eine liberale Wirtschaftsordnung, Rechtsstaatlichkeit und den in unserem Kulturkreis verankerten individuellen Grundrechten?» oder «Wie kann China in ein System des Multilateralismus eingebunden und dazu motiviert werden, Verantwortung zu übernehmen angesichts globaler Herausforderungen wie Klimawandel, Nachhaltigkeitsziele, Migration, Cybersecurity und Gesundheitsrisiken?». Anhand der Thesen konnten die Delegationsteilnehmenden ihre Anliegen und Fragen direkt an Bundespräsident Cassis richten.

 

Neutralität im Brennpunkt

Der daraus entstandene konstruktive Dialog führte nicht immer zu einem Konsens, doch sehr wohl zu mehr Verständnis. Zu erweiterten Diskussionen kam es unter anderem beim Thema Schweiz und Neutralität, das in der vierten These aufgegriffen wird. So wies Bundespräsident Cassis darauf hin, dass beim Begriff zwischen rechtlicher und politischer Neutralität zu differenzieren sei. Neutralität sei zudem nicht mit den Werten gleichzusetzen. «Die Schweiz ist gegenüber ihren Werten nicht neutral», brachte er seine Meinung auf den Punkt. Die offizielle Schweiz habe sich denn auch in der China-Strategie klar zu den Menschenrechtsverletzungen geäussert.
Zum Schluss des Delegationstreffens waren sich alle Beteiligten einig, dass sich die Schweiz bestmöglich auf eine Welt «mit» China und nicht auf eine Welt «gegen» China vorbereiten müsse. Nur durch Zusammenarbeit und Austausch gelinge es, einem erstarkten Reich der Mitte mit mehr Kohärenz begegnen zu können.

Die 10 Impuls-Thesen

1. Will die Schweiz handlungsfähig bleiben, darf sie wirtschaftlich nicht zu stark an Chinas Tropf hängen.

China bietet grosse Chancen für die Schweizer Wirtschaft. Damit verbunden sind aber auch Risiken. Durch Diversifikation gewinnen wir Flexibilität in Handelsketten und politische Freiheit im Umgang mit China. Denn zu viel wirtschaftliche Abhängigkeit führt zu politischer Erpressbarkeit.

 

2. Die Antwort auf Chinas starren Kurs darf nicht ein Abbau unserer liberalen Werte sein, vielmehr müssen wir uns auf sie zurückbesinnen und sie stärken.

China wird sich nicht ändern. Anstatt sich von unseren Werten abzuwenden, sind wir gefordert, nach neuen Wegen der konkret gelebten Kooperation zu suchen, welche Spielraum auf beide Seiten geben, aber unser Wertebekenntnis nicht unterminieren.

 

3. China zwingt uns, in der Beziehung zur EU über unseren Schatten zu springen.

Die zunehmende Aggressivität Chinas zwingt die Schweiz, Stellung zu beziehen zu den Werten der EU. Das Zusammenrücken kann für uns eine Chance sein, sich der EU neu zu nähern. Denn nur mit grossen Partnern können sich kleine Staaten wie die Schweiz China gegenüber behaupten.

 

4. Die Schweiz darf sich die Neutralität gegenüber einem autoritären Regime nicht länger leisten.

Die Neutralität der Schweiz muss neu definiert werden. Denn die Schweiz muss sich im globalen Kräftemessen klar den demokratischen europäischen Ländern zuordnen, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch und strategisch.

 

5. Gezielte Forschung in Bereichen, die China künftig brauchen wird, stärkt die Position der Schweiz und bildet einen Hebel in den Verhandlungen mit China.

Chinas demografische und sozioökonomische Strukturen bieten in vielen Bereichen, in denen die Schweiz stark ist, grosse Möglichkeiten. Beispiele sind die Überalterung der Gesellschaft und der jahrelange Raubbau an Ressourcen und Umwelt.

 

6. Freies und kritisches Denken muss bewusst gefördert und gestärkt werden, denn es macht unsere Bildungsinstitutionen autoritären Regimen überlegen.

Unabhängiges Denken ist der wichtigste Pfeiler für innovative Forschung. In China ist genau das nicht gewährleistet, was bei Forschungspartnerschaften berücksichtigt werden muss. Die Freiheit der Wissenschaft darf in der Schweiz nicht unter Druck geraten.

 

7. Der vermeintliche Schweizer Sonderstatus verhindert eine kritische Auseinandersetzung mit China.

Die «gute Freundschaft» zwischen der Schweiz und China endet da, wo über demokratische Grundwerte und Menschenrechtsverletzungen hinweggeschaut wird, aus Angst, die Sonderstellung zu gefährden. Dieser Status muss überdacht werden, denn er birgt die Gefahr, zum Maulkorb zu werden.

 

8. Für einen wirkungsorientierten Umgang mit China braucht die Schweiz dringend mehr China-Kompetenz.

Nur wenn die nächste Generation solide auf China vorbereitet ist, wird sie sich den Herausforderungen stellen können. Dazu gehört die Förderung einer breiten China- und Asien-Kompetenz an Schweizer Bildungsinstitutionen und in der Zivilgesellschaft.

 

9. Digitale Kompetenzen sind nötig, um nicht in einer Diktatur der Bequemlichkeit zu landen.

Der Kampf um Daten wird die Grundlage kommender Kriege. Unsere junge Generation muss auf einen verantwortungsvollen Umgang mit dieser Thematik vorbereitet werden, um manipulative Ansätze frühzeitig entlarven zu können.

 

10. Die Schweizer Jugend muss erkennen, dass die Gesellschaft ihre Partizipation dringend braucht.

Wollen wir unsere Stärke gegenüber Regimen wie China weiterhin stärken, müssen wir die nächste Generation zu kritischen Denkenden erziehen und sie in Entscheidungsfindungen einbinden.

 

Das ganze Impulspapier finden Sie bei europaforum.ch

Verantwortung mittragen

Diskurs Zur Europa Forum-Delegation, die Bundespräsident Cassis empfing, gehörten Marcel Stalder, Präsident Europa Forum; Dominik Isler, Geschäftsführung Europa Forum; Heinz M. Buhofer, VR Metall Zug, Mitglied EF Steering Committee; Catherine Gfeller, Künstlerin; Markus Herrmann Chen, MD China Macro Group; Adrian T. Keller, Präsident Asia Society Switzerland; Fabian Peter, Regierungsrat Kanton Luzern, Mitglied EF Executive Committee; Cécile Rivière, Vorstandsmitglied Foraus, Mitglied EF Executive Committee; Elisabeth Schneider-Schneiter, Nationalrätin, Präsidentin HKBB, Mitglied EF Executive Committee; Uli Sigg, Unternehmer sowie Ralph Weber, Professor Europainstitut Uni Basel.

Programm 2022 «Let Europe arise. Welches Europa wollen die Millennials jetzt?», lautet das diesjährige Hauptthema des Europa Forum. Als Höhepunkt der Jahresaktivitäten findet am 23. und 24. November 2022 das Annual Meeting im KKL Luzern statt. europaforum.ch