Weltweite Berühmtheit erlangte Frances Haugen als Whistleblowerin im Fall Facebook. Sie, die langjährige Mitarbeiterin, warf dem sozialen Netzwerk vor, mit voller Absicht Falschnachrichten zu verbreiten, um die Verweildauer seines Publikums zu verlängern und die Bindungskraft des Angebots zu stärken. Wem das schon angsterregend vorkam, den wird erschrecken, wovor Frances Haugen jetzt warnt. «Die Gefahren sind gewaltig», sagte sie in einem Interview mit dem «Handelsblatt». «Künstliche Intelligenz macht es möglich, in nie gekannten Dimensionen Falschnachrichten zu verbreiten.»  

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Stimmt das? Ja, ohne Frage. Vor allem der US-Präsidentschaftswahlkampf 2024 könnte zur Materialschlacht für Sprachroboter werden. Erstmals in der Geschichte der Demokratie gibt es eine Technologie, die jede wählende Person passgenau anspricht. Und zwar mit Botschaften, die sie am meisten bewegen, und in genau dem Sprachstil, den sie bevorzugt. Früher arbeiteten Markt- und Meinungsforscher Zielgruppen für eine Partei oder eine Kandidatin heraus. Heute gilt: n=1 – die Zielgruppe ist nicht mehr grösser als eine einzelne Person.

Für sich allein genommen wäre dies noch kein Problem. Doch es kommen drei Faktoren hinzu, die es zum Problem machen. Erstens: Menschen wählen mehr aufgrund von Emotionen als auf Basis sachlich-abwägender Analysen. Wer die Emotionen für sich gewinnt, gewinnt auch die Wahl. Doch Emotionen – das zeigen zahlreiche Untersuchungen zu Fake News – hängen nicht vom Wahrheitsgehalt einer Botschaft ab. Falschnachrichten erregen im Schnitt sechsmal mehr Aufmerksamkeit als die Wahrheit und werden vielfach häufiger in Netzwerken geteilt.

Lügen können den Erwartungshorizont sprengen

Warum? Weil Fake News überraschender erscheinen als die Wahrheit. Das liegt in der Natur der Sache. Die Wahrheit liegt oft im Rahmen des Erwartbaren, Lügen hingegen können den Erwartungshorizont sprengen und Instant-Gefühle wie Wut, Zorn, Hass oder Angst erzeugen. Je überraschender eine Behauptung, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass sie ein grelles Gefühl hervorruft.

Künstliche Intelligenz, einmal auf diesen Effekt trainiert, kann anhand der Cookies, Browserverläufe und Chats auf jedem Computer oder Smartphone genau jene Lügen fabrizieren, die maximale emotionale Energie freisetzen. Nach Aussage des Chat-GPT-Erfinders Sam Altman kostet ein Dialog mit seinem Bot etwa 2 US-Cent. Für wenige Cent kann man der Wählerin also Angst und Schrecken vor dem politischen Gegner einjagen. Für eine einzige Dollar-Million Wahlkampfspende erreicht man mit agitierenden, personalisierten Botschaften fünfzig Millionen Menschen. 

Faktor Nummer zwei: Gegenwehr durch Wahrheitsfilter ist kaum möglich. Man fängt die Botschaft nicht ab, bevor sie die Empfängerin erreicht. Entlarvt man die Lüge hinterher, gleicht das dem Versuch, Zahnpasta zurück in die Tube drücken. Gesetzliche Vorschriften kommen entweder zu spät oder verbieten sich aus verfassungsrechtlichen Gründen. In der Demokratie gilt das freie Spiel der Meinungen. Eine staatliche Zensurinstanz zur Trennung von Lüge und Wahrheit wäre mit dem Prinzip von Freiheit nicht vereinbar.

Faktor Nummer drei: Klassische Medien suchen zwar meist nach Wahrheit, durchlaufen aber eine jahrzehntelange Schwächeperiode mit unsicherem Ausgang. In den USA ist die Zahl der Journalistinnen und Journalisten in den vergangenen zwanzig Jahren auf einen Drittel gesunken.

Die vierte Gewalt ist geschwächt und unterfinanziert

Die Werbeumsätze der Medien sind seit dem Jahr 2000 auf einen Fünftel eingebrochen, während der Verkauf von Abonnements durch die digitale Transformation allenfalls stabil geblieben, in den meisten Fällen aber ebenfalls gesunken ist. Redakteure in US-Zeitungen verdienen heute 50 Prozent weniger als ihre Kolleginnen und Kollegen in Radio und Fernsehen – und nur einen Drittel des Gehalts verdienen sie bei Streaming-Diensten wie Netflix. Die Vierte Gewalt ist geschwächt; das Korrektiv unterfinanziert. 

So wie Kennedy einst gegen Nixon gewann, weil er das neue Medium Fernsehen besser verstand, und Obama gegen McCain, weil er Social Media und Spendensammeln im Netz schneller begriff, so wird 2024 womöglich jener Kandidat gewinnen, der künstliche Intelligenz am geschicktesten für seine Zwecke einsetzt.

Trotz mehrerer Strafverfahren könnte dies Donald Trump sein. Auch verurteilte Straftäter dürfen in den USA zum Präsidenten gewählt werden. Wie liesse sich der Missbrauch von künstlicher Intelligenz zur Wahlbeeinflussung bekämpfen? Nach gegenwärtigem Stand nur durch Aufklärung und Förderung des kritischen Verstands beim Publikum. Wahrheit hat nur eine Chance, wenn Wahrheit als Wert breit in der Gesellschaft verankert ist. Dazu kann jeder und jede von uns beitragen.

Christoph Keese

Christoph Keese ist Verwaltungsratspräsident von World.minds sowie Unternehmer und Unternehmensberater aus Berlin. Der Autor von sechs Büchern schreibt regelmässig über Technologie und Innovation, neuerdings auch zweiwöchentlich in der «Handelszeitung».