«Loonshots» stehen für risikoreiche Ideen in der Frühphase, die Start-ups zum Erfolg führen. Der Physiker Safi Bahcall wendet in seinem gleichnamigen Buch die Wissenschaft des Phasenübergangs an, um Verhaltensänderungen in komplexen Systemen zu erklären.

Ein Beispiel: Stellen Sie sich ein Glas Wasser vor. Bei Raumtemperatur bleibt es flüssig, aber wenn die Temperatur unter Null sinkt, gefriert es und wird fest, obwohl das Wassermolekül immer noch dasselbe ist. Das ist der Phasenübergang.

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Rose Nguyen ist Investment Manager bei Baillie Gifford.

Dieses Phänomen gilt auch für Unternehmen: Jedes Unternehmen sieht sich mit einer inhärenten Spannung zwischen dem Ausbau des bereits erfolgreichen Teils des Geschäfts (des «Franchise») und der Weiterentwicklung risikoreicher Ideen aus ihrer Frühphase (den «Loonshots») konfrontiert. Um langfristig erfolgreich und innovativ zu sein, muss ein Unternehmen beide Aufgaben gut erfüllen.

So wie Wasser jedoch nicht gleichzeitig als Flüssigkeit und als Feststoff existieren kann, so kann ein Unternehmen nach Bahcalls Ansicht nicht gleichzeitig in zwei Phasen existieren. Denn die Entwicklung von Loonshots erfordert Geduld und Kreativität, während die Führung von Franchiseunternehmen Disziplin und operative Exzellenz erfordert.

Bei null Grad Celsius befindet sich Wasser genau am Rande eines Phasenübergangs und Eis koexistiert mit Flüssigkeit in einem dynamischen Gleichgewicht. Wie kann man dieses Gleichgewicht in einer Organisation erreichen? Bahcalls schlägt dazu unter anderem vor:

  • Trennen Sie die Phasen: Trennen Sie die «Künstler», die für die Entwicklung von Loonshots verantwortlich sind, von den «Soldaten», die die Franchise beaufsichtigen. Passen Sie die Anreizstrukturen und die Arbeitsumgebungen auf das jeweilige Team an.
  • Schaffen Sie ein dynamisches Gleichgewicht: Halten Sie die beiden Gruppen in Verbindung, so dass es eine kontinuierliche Feedback-Schleife und zu einer Umsetzung der «Loonshots» in Produkten und Dienstleistungen kommt.
  • Verbreiten Sie eine Systemdenkweise: Fragen Sie immer wieder, warum die Organisation bestimmte Entscheidungen trifft, wie sie getroffen werden und was getan werden kann, um die Gestaltung der beiden Phasen weiter zu verbessern.
  • Senken Sie den Gefrierpunkt: Phasenübergänge geschehen aufgrund des Tauziehens zwischen zwei konkurrierenden Kräften. In jeder Organisation gibt es einen Konflikt zwischen «Einsatz» und «Rang». In kleinen Gruppen ist der Einsatz hoch. Alle arbeiten auf die gemeinsamen Ziele hin. In grösseren Gruppen werden die Ränge wichtig, und der Schwerpunkt verlagert sich auf Karrieren und Beförderungen. Es gibt jedoch Parameter, um dies zu kontrollieren, zum Beispiel weniger Management-Ebenen respektive weniger Stufen auf der Karriereleiter.

Gerade bei der Analyse von biopharmazeutischen Unternehmen sind solche Überlegungen nützlich. Denn für junge Biotech-Firmen kommt es zu einem ausgeprägten Phasenübergang, wenn das erste Arzneimittelprogramm aus der Forschung und Entwicklung (der Loonshot) in den kommerziellen Verkauf (Franchise) übergeht.

Viele Biotech-Firmen verfügen aber nicht über die Ressourcen und die Finanzkraft, um gleichzeitig die Kommerzialisierung der Franchise als auch weitere Investitionen in Ideen fortzuführen. Für Anleger ist es deshalb eine wichtige Frage im Rahmen ihrer Analyse, ob es sich das Unternehmen leisten kann, gleichzeitig in zwei Phasen zu sein. Denn dies allein kann eine Quelle von Wettbewerbsvorteilen sein.