So alt wie der Krebs sind die Triumphmeldungen, ihn vermeintlich besiegt zu haben. Gestimmt haben solche Nachrichten nie. Krebs ist komplizierter und vielgestaltiger, als es meistens den Anschein hat. Auch jetzt, im Zeitalter phänomenaler Fortschritte von Molekularmedizin und Gendiagnostik, sollte man sich hüten, vom Ausrotten des Krebses in naher Zukunft zu sprechen. 

In der Schweiz starben im vergangenen Jahr ausweislich des Bundesamts für Statistik 71'192 Menschen, davon 16'880 an Krebs. Rund 23 Prozent aller Todesfälle gingen 2021 damit aufs Konto krankhafter Wucherungen. Tödlicher sind nur noch Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

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Besonders häufig sind Lunge, Dickdarm und Brust – in dieser Reihenfolge – vom tödlichen Krebs betroffen. Fast 20-mal mehr Menschen sterben in der Schweiz jährlich an Krebs als durch Unfälle oder Gewalteinwirkung. 

Vom Besiegen des Krebs kann also nicht die Rede sein, wohl aber von faszinierenden neuen Ansätzen zu seiner Eindämmung. Im vergangenen Jahr konnten Tech-Startups, die am Thema Krebs arbeiten, nach einer Statistik des Datendienstes Crunchbase weltweit acht Milliarden Dollar Wagniskapital einsammeln.

Das waren zwar deutlich weniger als die 13,7 Milliarden Dollar des Jahres 2021, doch die gute Nachricht ist: Auch in schwierigen wirtschaftlichen Zeiten fliessen immer noch private Milliardensummen in neue Firmen – zusätzlich zu den Forschungsbudgets etablierter Konzerne wie Roche oder Novartis.  

Das beeindruckende Beispiel des Startups Grail

Ein Beispiel für bahnbrechende neue Strategien von Startups ist die Firma Grail aus Menlo Park im Silicon Valley. Sie allein hat seit ihrer Gründung 2016 rund zwei Milliarden Dollar Wagniskapital eingenommen. Was bietet Grail an? Jeder Tumor verliert wie jedes andere Gewebe ständig Zellen, die zerfallen und ihre DNA in die Blutbahn entlassen. In unserem Blut schwimmt damit nicht nur unser eigenes Erbgut, sondern auch der biologische Code abgestorbener Tumorzellen. 

Mit neuartigen Methoden der Sequenzierung liest Grail alles aus, was die Blutbahn transportiert. Mehr als 50 Arten von Krebs sind in der Datenbank des Unternehmens gespeichert. Mit jeder Probe wächst die Datenmenge und damit die Prognosequalität weiter an. 45 dieser Krebsarten werden nach Angaben des Unternehmens nicht von anderen Tests erfasst.

Taucht ein Genschnipsel einer bestimmten Tumorart in einer Blutprobe auf, schlägt das System Alarm. Zwar kann es nicht genau sagen, wo der Tumor sitzt – schliesslich landen alle Genschnipsel immer im selben Blut. Doch da einzelne Tumoren bevorzugt in bestimmten Organen auftauchen, weiss der behandelnde Arzt präzise, wo er die Suche beginnen und besonders gründlich hinschauen sollte. 

Das frühe Erkennen eines Tumors ist entscheidend

Ziel des Unterfangens ist, Tumore viel früher als heute zu erkennen – idealerweise noch bevor der Patient irgendwelche Symptome spürt. Krebs zu behandeln, noch bevor er sich manifestiert, dürfte die Chancen auf Heilung erheblich verbessern. Zeit ist ein entscheidender Faktor in der Krebstherapie. 

Unbefriedigend dabei bleibt natürlich, den Ort des Tumors nicht exakt bestimmen zu können. Doch auch daran wird gearbeitet. Dr. Sam Gambhir und Cyriac Roeding betreiben im Silicon Valley ein Startup namens Earli. Es setzt sich zum Ziel, Wucherungen zu bestimmen, wenn sie noch gar nicht auftreten.

Dafür identifiziert Earli Gen-Konstellationen, die statistisch für die Bildung von Krebs bekannt sind. Dieser «potenzielle Krebs» soll dann gezwungen werden, einen Biomarker zu produzieren, der in bildgebenden Diagnoseverfahren gesehen werden kann.

Später einmal soll der «potenzielle Krebs» sogar dazu gebracht werden, sich selbst zu vernichten. Noch ist das Zukunftsmusik. Die Earli-Gründerinnen und -Gründer sprechen selbst von einem «Moonshot», also von einem Schuss ins Blaue. Doch Beispiele wie diese und Hunderte andere belegen, dass Krebs heute molekular und biologisch so gut verstanden wird wie nie zuvor. Ob und wann wir ihn tatsächlich besiegen können, bleibt ungewiss. Sicher aber scheint: Die Chancen steigen stetig.

Christoph Keese

Christoph Keese ist Verwaltungsratspräsident von WORLD.MINDS sowie Unternehmer und Unternehmensberater aus Berlin. Der Autor von sechs Büchern schreibt regelmäßig über Technologie und Innovation, neuerdings auch zweiwöchentlich in der Handelszeitung.