Firmen sprechen liebend gern von ihren Visionen. Visionen sind schillernde Zukunftsbilder – positiv besetzt, aber breit genug verfasst, um nicht konkret daran gemessen zu werden. Dankbares Material also für Town-Hall-Meetings, Präsentationen und Reden von Wirtschafts-Topshots.
Anfang dieser Woche war die Migros an der Reihe: Sie stellte ihre neue «Vision 2035» vor – frisch verabschiedet von der Delegiertenversammlung, dem obersten Organ der Genossenschaft. Nach Jahren des Schmerzes, verbunden mit Stellenabbau und dem Verkauf traditionsreicher Tochterfirmen wie Hotelplan, Mibelle und Melectronics, soll sie den Startschuss für eine neue Ära geben. Die Post-Restructum-Phase, sozusagen.
Doch wohin geht die Reise, jetzt, da das Tal der Tränen allmählich durchschritten scheint? Wer vom orangen Riesen einen mutigen Neustart erwartete, wird enttäuscht. Man muss geradezu suchen, was an der Vision anders ist. «Die Migros setzt Massstäbe bei Leistungen des täglichen Bedarfs und fokussiert auf die Bedürfnisse der Menschen», heisst es da etwa. Oder: «In Preis und Leistung geht sie keine Kompromisse ein.» Und natürlich der Evergreen der Allgemeinplätze: «Im Zentrum unseres Handelns stehen unsere Kund:innen.» Alles richtig – aber auch alles austauschbar.
Die Gastautorin
Karin Kofler ist regelmässige Gastkolumnistin und selbstständige Publizistin.
Natürlich, Visionen sind selten konkret. Auch der Luzerner Milchriese Emmi beispielsweise bleibt mit dem Satz «Wir möchten die besten Erlebnisse mit Milchprodukten zu Emmi-Momenten machen» im Erwartbaren. Doch gerade jetzt täte der Migros ein etwas prägnanteres, einträglicheres Framing für die nächsten zehn Jahre gut. Nach Jahren des Schrumpfens, der Fehlinvestments in der Gruppe und schwindender Innovationskraft würden nicht nur Migros-Kinder gerne einen orangen Riesen erleben, der mit attraktiven Angeboten Themen adressiert, bei denen viele Schweizerinnen und Schweizer auf neue Lösungen hoffen: urbane Wohnungsnot, bröckelnde Altersvorsorge, steigende Gesundheitskosten, Perspektiven für die Jugend, Lebensqualität im Alter.
Irgendwie bezeichnend: Das Wort Innovation taucht in der neuen publizierten Vision gar nicht mehr auf. Im alten Leitbild war immerhin noch von «wir schaffen Neues» und «Pioniergeist» die Rede – ein direkter Bezug zu Gründer Gottlieb Duttweiler, dessen einfache Devise lautete: «Für die Hausfrau, die rechnen muss!» Jeder wusste, wofür die Migros stand. Genau diese Schärfe in der Positionierung, diese sofortige Assoziation mit der «Raison d’Être» fehlt der Migros derzeit in ihrem Kerngeschäft, den Supermärkten. Preisführerschaft? Besetzt von den Discountern. Biokompetenz? Wird sofort mit Erzrivale Coop verbunden. Und die Migros? Steht irgendwo dazwischen.
Einzig neu – und durchaus bemerkenswert – ist die Offenheit, mit der die Migros jetzt von Rendite spricht. «Wir streben nach langfristigem wirtschaftlichem Erfolg. Jedes unserer Geschäfte schafft nachhaltigen Wert, erzielt Renditen auf Marktniveau und trägt zur Stärke der Gruppe bei.» Das ist mitunter die Handschrift von CEO Mario Irminger: weniger Selbstzweck, mehr Ergebnis – so will es der Finanzprofi und frühere Denner-Chef. Zu Recht. Nach der Rosskur soll jetzt die Phase der Rehabilitierung starten.
Doch wirtschaftlicher Erfolg allein ist keine Vision. Wenn die Migros wieder zur Treiberin werden will, muss sie mehr bieten als solide Kennzahlen – sie braucht Richtung, Mut und eine neue Idee, wofür sie eigentlich steht. Das Spielfeld ist da für die volksnahe Migros mit ihrer ausserordentlichen Markenstärke.
Diese maue Vision 2035 ist nicht nur ein verpasstes Kommunikationsstück: Sie ist vielleicht einfach das Spiegelbild einer Migros auf Selbstfindungstrip. Oder, um es in der Migros-Sprache zu sagen: Das geht noch ein M besser.

