Die Welt: Herr Straubhaar, wie gefährlich ist das Abstimmungsergebnis für die Schweizer Wirtschaft?
Thomas Straubhaar: Aus Schweizer Sicht ist das Abstimmungsergebnis äusserst gefährlich, weil Europa und ganz speziell Deutschland überlebenswichtig für die Schweiz sind. Drei von fünf Franken, die Schweizer Unternehmen im Ausland verdienen, kommen aus Europa. Alleine nach Deutschland, zum wichtigsten Handelspartner, geht ein Fünftel der Schweizer Ausfuhren; danach folgen schon die anderen Nachbarländer Frankreich und Italien. Das macht die Schweiz sehr verletzlich. Wenn die Schweiz die Personenfreizügigkeit zu stark beschneiden sollte und die EU darauf mit Strafmassnahmen reagieren würde, wären die Folgen für Schweizer Unternehmen verheerend.

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Das scheint gegenwärtig allerdings äusserst unwahrscheinlich.
Das stimmt, kurzfristig wird gar nichts passieren, weil die Änderungen erst in drei Jahren umgesetzt sein müssen. Entscheidend wird sein, ob alle Verträge mit der EU neu verhandelt werden oder nur die Personenfreizügigkeit. Mittel- und langfristig wird es aber für höher Qualifizierte und Jüngere nicht mehr so attraktiv sein, in die Schweiz zu ziehen. Das wird die Schweizer Volkswirtschaft Wohlstand kosten.

Diese Argumente kannten die Schweizer auch. Aber offenbar haben sie nicht genügt, die Wähler zu überzeugen.
Das stimmt, und grundsätzlich verstehe ich, dass sich viele Schweizer über das starke Bevölkerungswachstum aufregen. Seit dem Jahr 2000 ist die Bevölkerung von 7,2 Millionen Menschen auf 8,1 Millionen gewachsen – also fast um eine Million. Das ist für ein kleines Land wie die Schweiz eine gewaltige Zunahme, und die ist vor allem durch die Zuwanderung getrieben. Die Schweizer fühlen sich irgendwie beengt. Man spricht vom Dichtestress.

Aber diese Menschen kamen doch alle, weil die Schweizer Wirtschaft sie gebraucht hat.
Ganz genau! Und deshalb ist es dumm, gegen Einwanderung zu stimmen. Denn die Schweizer Unternehmen sind so extrem wettbewerbsfähig, weil sie stark von hoch qualifizierten Zuwanderern profitieren. Mehr als die Hälfte der Erwerbstätigen, die mit der Personenfreizügigkeit aus EU-Ländern in die Schweiz kommen, haben einen Hochschulabschluss. Das sind keine Gastarbeiter wie in den 60er-Jahren, die am Fliessband stehen oder Strassen bauen.

Gerade deshalb konkurrieren sie vielleicht mit Schweizer Arbeitnehmern.
Eben nicht. Untersuchungen zeigen, dass durch die Zuwanderung nicht nur mehr Stellen für Schweizer Arbeitnehmer entstehen, sondern dass auch die Löhne trotz der Zuwanderung weiter steigen.

Die Lebenshaltungskosten steigen allerdings auch, und die Mieten explodieren geradezu – gerade weil mehr Menschen in der Schweiz leben als früher.
Das stimmt, aber die Löhne sind noch stärker gestiegen als die Lebenshaltungskosten, sodass die Urschweizer heute mehr zum Leben haben als vor zwölf Jahren. Es gibt allerdings eine Gruppe, die kommt – endlich – durchaus unter Druck!

Nämlich?
Bei den höher Qualifizierten haben ausländische Fach- und Führungskräfte durchaus für Konkurrenz gesorgt, die es vorher so nicht gab, das sehen wir überall. An den Universitäten, im Gesundheitsweisen, in den Chefetagen der Unternehmen. Die Manager oder Berater aus Deutschland sind sprachgewandter, wortgewaltiger, sehr gut ausgebildet und ehrgeizig. Früher konnten sich die gut ausgebildeten Schweizer auf den höheren Ebenen sehr stark abschotten von Konkurrenz; jetzt hat ihnen die Personenfreizügigkeit das Leben schwerer gemacht.

Glauben Sie, die Chefetagen unterstützen die Kampagne gegen die Einwanderung?
Das kann man bei einigen Berufen nicht völlig von der Hand weisen. Gerade in den multinationalen Unternehmen in der Schweiz hat in den vergangenen Jahrzehnten ein enormer Kulturwandel stattgefunden. An der Spitze von grossen Konzernen wie Nestlé, der UBS oder der Credit Suisse standen früher ausschliesslich Schweizer Männer, die gedient hatten und in der Schweizer Armee meist den Rang eines Oberst innehatten. Die Generaldirektoren waren früher jedes Jahr mindestens drei Wochen weg aus dem Unternehmen, um beim Militär ihrer Reservistenpflicht nachzukommen.

Das fördert natürlich einen gewissen Korpsgeist …
Und ob. Die konnten auf dem Schützenpanzer netzwerken und sich mit anderen Wirtschaftsführern austauschen. Die trafen dort Kollegen, die im zivilen Leben vielleicht die grössten Konkurrenten waren. Das hat eine gewisse Vetternwirtschaft gefördert, die in den vergangenen Jahren dramatisch aufgebrochen ist. Heute sitzen viele Deutsche in den Chefetagen von Banken, Pharmafirmen und öffentlichen Betrieben.

Der Kulturwandel in den Unternehmen ist also mitverantwortlich für die Gefühlslage.
Ja, auf jeden Fall. Der Milizgedanke ist in der Schweiz sehr prägend. Früher war es selbstverständlich, dass die Männer dafür jedes Jahr drei, vier Wochen gefehlt haben. Aber seit die Führungsebene internationaler ist, sehen die Chefs nur die Kosten und haben kein Verständnis für das Milizsystem. Da heisst es nur: «Ihr seid für den Betrieb da und nicht für die Gesellschaft.» So etwas nagt am Schweizer Selbstverständnis – und allemal, wenn die Manager an prominenten Positionen sitzen. Dann provoziert diese zunehmende Internationalisierung nicht nur Neid, sondern kann auch instrumentalisiert werden von nationalen Strömungen, so wie bei dem Volksentscheid.

Die Neuankömmlinge sind also häufig auch selbst schuld?
Das würde ich nicht sagen. Aber für die Schweizer ist der Wandel nicht einfach. Deutsche können sich nicht vorstellen, wie schwer es Schweizern fällt, dass sie in den Krankenhäusern bei Ärzten und Schwestern Hochdeutsch reden müssen, ausgerechnet dann, wenn es ihnen ohnehin nicht gutgeht. Das ist ein gewaltiges Problem für die Schweizer, wenn sie im Krankenhaus oder im öffentlichen Dienst, in den Medien oder in der Schule nicht mehr reden können, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist.

Diese Ressentiments haben offenbar auch das Volksbegehren getragen.
Ja. Und was mich wirklich erschreckt, sind die Reaktionen aus Deutschland. Wenn ich mich auf Twitter und in den Kommentarspalten der Nachrichtenseiten umsehe, sind 80 Prozent der deutschen Kommentatoren begeistert darüber, was gerade in der Schweiz passiert. Die schreiben, es werde endlich mal Zeit, dass jemand aufsteht gegenüber Brüssel und dem europäischen Zentralismus. So etwas kann sehr schnell eine Eigendynamik entwickeln, und man muss wirklich aufpassen, dass nicht plötzlich auch andere Europäer die Personenfreizügigkeit infrage stellen.

Sie glauben also, dass der EU-Binnenmarkt gefährdet sein könnte?
Wir müssen immer wieder für offene Grenzen kämpfen; das ist kein Selbstläufer. Die Ironie ist doch, dass die Schweiz seit 1945 als Trittbrettfahrerin von der europäischen Einigung profitiert hat. Ohne den europäischen Binnenmarkt wäre die Schweiz nicht das Paradies, das sie heute ist.

Thomas Straubhaar ist Schweizer Ökonom und Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI).

Dieses Interview ist zuerst in unserer Schwester-Publikation «Die Welt» erschienen.