Sie haben den Job als IBM-Chef Schweiz zum zweiten Mal übernommen, einmal bis 2014 und nun wieder seit Anfang Jahr. Das ist ungewöhnlich.
Christian Keller: Der Schweizer Markt ist äusserst spannend und kompetitiv mit seinem Mix aus weltweit präsenten Grossunternehmen und einem starken, technologieaffinen Mittelstand. Bei IBM ist Zürich ausserdem einer von zwölf Standorten weltweit mit einem Forschungs-Lab. Da kann ich gut meine Erfahrungen einbringen.

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Sind die Themen heute andere als vor vier Jahren, als Sie Ihre erste Amtszeit beendeten?
Digitalisierung ist nach wie vor ein zu oft zitiertes Modewort. Der Schweizer Mittelstand hat nach dem Frankenschock investiert und nutzt Technologie heute anders. Unternehmer haben erkannt, dass sie mit einer verbesserten Datennutzung neue Geschäftsmodelle generieren können.

Sollen Schweizer Unternehmen es Facebook nachtun?
Jedes Unternehmen muss für sich selbst entscheiden, welches Geschäftsmodell das richtige ist. IBM ist nicht im «Datenakkumulations-Business». Wir glauben fest daran, dass die Daten dem Kunden gehören. Wir stellen Lösungen zur Verfügung, mit denen die Kunden mehr Informationen aus den vorhandenen Daten herausholen können.

IBM-Chefin Ginni Rometty sieht grosses Potenzial bei unstrukturierten Daten, die zu 80 Prozent noch «brachlägen». Verstehen Sie, dass Menschen bei solchen Aussagen nervös werden?
Ich kann es nachvollziehen. Ginni Rometty meinte jedoch mit dieser Aussage, dass 80 Prozent der Daten bei traditionellen Firmen hinter der Firewall gespeichert sind, ohne ausgewertet zu werden. Hier liegt viel Potenzial. Die Chancen der etablierten Konzerne sehen viel besser aus als noch vor drei oder vier Jahren. Sie haben sich den disruptiven Technologien der Startups geöffnet: Entweder, indem sie sie gekauft haben, oder indem sie mit ihnen kooperieren. Gleichzeitig verfügen sie über einen Datenschatz in Form einer riesigen Kundenbasis, den sie Startups voraushaben. Ich erwarte ein Wiederaufleben der etablierten Konzerne in den kommenden Jahren.

Weil sie den Datenschatz heben?
Unternehmen hatten zuvor die Werkzeuge nicht, um die Daten in ihrem Besitz zu nutzen. Künstliche Intelligenz und Analytics bieten nun Möglichkeiten zur Datenanalyse, um personalisierte Lösungen zu entwickeln und Mehrwert zu schaffen.

Mit Werkzeugen meinen Sie zum Beispiel den IBM-Supercomputer Watson, nehme ich an. Hat Watson denn eingelöst, was sich IBM von ihm versprochen hat?
Hier ist es wichtig, zu differenzieren. Wenn man glaubt, Watson sei eine allwissende künstliche Intelligenz, ist das zu hoch gegriffen. Auch wenn Watson trainiert und nicht programmiert wird, sind wir davon noch viele Jahre entfernt. Der Einsatz von Systemen wie Watson muss klar zweckgebunden sein.

IBM ist kürzlich ein Durchbruch gelungen, erstmals hat eine künstliche Intelligenz eine Debatte mit einem Menschen geführt. In welchen Jobs kann diese Software zum Einsatz kommen?
Die im IBM Project Debater entwickelte Technologie soll einem Nutzer dabei helfen, überzeugende Argumentationen aufzubauen und gut informierte Entscheidungen zu treffen. Denkbar sind verschiedene Einsatzfelder, in denen komplexe Entscheidungen getroffen werden müssen, zum Beispiel bei der Identifikation und Abwägung von Pro- und Contra-Argumenten für Finanzinvestitionen, in der Politik oder im Unternehmensmanagement.

«Ein Kandidat, der sich bei uns bewirbt, hat zwei oder drei andere Angebote. Da müssen wir punkten.»

Werden wir durch Algorithmen unselbstständiger? Etwa wenn Watson Health einen Arzt bei der Diagnosefindung unterstützt.
Watson Health gibt nicht die Diagnose vor. Der Arzt hat jederzeit die Möglichkeit, nachzuvollziehen, wie das System zu seinem Ergebnis kommt. Watson hilft bei der Entscheidungsfindung, indem er Daten aus Tausenden von Fachpublikationen auswertet, die der Arzt alleine nicht im Blick behalten könnte.

Ist das nicht eine Illusion? Wer mit Google Maps unterwegs ist, folgt ja auch der Routenempfehlung, ohne die Kalkulation des Algorithmus nachzuvollziehen.
Watson entscheidet nicht über die Diagnose, sondern liefert Zusatzinformationen. Die Verantwortung bleibt beim Arzt. Es ist doch besser, wenn der Arzt zur Diagnosefindung nicht auf seinen Erfahrungsschatz begrenzt ist. Wir haben uns bei IBM drei Grundsätze gegeben, um den Umgang mit künstlicher Intelligenz auf ein solides Fundament zu stellen. Erstens muss die KI zweckgebunden eingesetzt werden und zweitens ihre Funktionalität transparent sein. Drittens müssen wir die Menschen befähigen, mit KI umzugehen.

Christian Keller, IBM Schweiz

Christian Keller arbeitet bereits zum zweiten Mal als Länderchef Schweiz, er übernahm den Posten Anfang Jahr, den er 2014 abgegeben hatte. In der Zwischenzeit amtierte Keller als Geschäftsführer von IBM Deutschland. Der Betriebswirt hat an der Universität St. Gallen promiviert und steht seit 1995 im Dienst von IBM. Der 53-Jährige ist verheiratet und hat zwei Töchter.

Quelle: Florian Kalotay, 13 Photo

Das Krebszentrum MD Anderson in Texas hat nach Investitionen von mehr als 62 Millionen Dollar die Versuche mit Watson abgebrochen. Auch über Ihre Kooperation mit Swiss Re gab es Berichte, wonach diese auf Eis gelegt werden solle.
Die Swiss Re ist einer unserer wichtigsten Kunden und wir arbeiten nach wie vor erfolgreich mit ihnen zusammen. Einzelheiten kann ich nicht nennen, da die Projekte vertraulich sind. Wie überall gibt es hier Business Cases, bei denen man sich die Resultate anschaut und entscheidet, ob die Projekte weiterverfolgt werden. Das ist aber nichts Aussergewöhnliches.

Also sind Sie mit den Watson-Projekten mit Swiss Re auf Erfolgskurs?
Wir unterhalten verschiedene Projekte mit der Swiss Re und die Watson-Technologie wird nach wie vor erfolgreich eingesetzt. Unsere Herausforderung ist ganz anders gelagert: Wir finden generell nicht genug Spezialisten, um die Nachfrage abzudecken.

Big-Data-Spezialisten, die Watson trainieren können?
Big-Data-Analysten, Mathematiker, Physiker, die gemeinsam mit dem Kunden an neuen Lösungen arbeiten und neue Ansätze aufzeigen können. Dazu fehlen die Fachkräfte.

Wenn Mitarbeiter gebraucht werden, was bedeutet das für Unternehmen?
Zum einen, sicherzustellen, dass neue Mitarbeiter die richtigen Kenntnisse mitbringen. Anderseits, bestehende Mitarbeiter weiterzubilden. Beides ist eine riesige Aufgabe für Unternehmen, den Staat und die Gesellschaft. Hier sind wir mit verschiedenen Verbänden auf einer Linie. Bei IBM selbst verlangen wir seit gut sechs Jahren, dass Mitarbeiter einen Teil ihrer Arbeitsstunden jährlich für Weiterbildungen verwenden. Heutzutage kann ein Mitarbeiter nach seiner Erstausbildung unabhängig vom Alter jeweils einen weiteren Ausbildungszyklus durchlaufen.

Sollen die Unternehmen die Kosten für die Weiterbildung tragen?
Es liegt ja im ureigenen Interesse eines Unternehmens, hier zu investieren. Unternehmen wollen am Markt erfolgreich sein. Das ist nur, wer wettbewerbsfähig Kundenbedürfnisse abdeckt, was wiederum nur mit entsprechend qualifiziertem Personal geht.

Wächst der Druck auf die Unternehmen, als Arbeitgeber überhaupt attraktiv zu sein?
Der berühmte «war of talents» ... Allein die demografische Entwicklung sorgt dafür. Viel mehr Arbeitskräfte werden künftig in Rente gehen, als auf dem Arbeitsmarkt nachfolgen. Diesen Wettbewerbsdruck um Talente spüren wir schon heute. Normalerweise hat ein Kandidat, der sich bei uns bewirbt, zwei oder drei weitere Angebote. Darum müssen wir nicht nur finanziell, sondern auch inhaltlich punkten.

Warum entscheiden sich Bewerber für IBM?
Wir hören von neuen Mitarbeitern immer wieder, dass die Bandbreite von IBM für sie wichtig ist. Technologisch stark zu sein und zugleich den Fokus auf Forschung und Entwicklung zu richten. Mit unserem Portfolio decken wir so viele Themen ab wie sonst zwei oder drei Konzerne zusammen. Da ist das Hardware-Geschäft, die Service-Sparte, ein starkes Softwaregeschäft mit Datenanalyse, Watson / künstlicher Intelligenz, Cloud und Security. Auf dieser Ebene punkten wir. Zudem legen wir viel Wert auf Selbstverantwortung, was sich auch bei der Arbeitsgestaltung zeigt, bieten flexible Arbeitszeiten, Mobile Working, konstante Weiterbildung.

IBM ist seit 1927 in der Schweiz präsent. Wichtig ist das Forschungszentrum in Rüschlikon, zwei Arbeiten wurden dort 1986 und 1987 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Seit Januar 2018 führt Christian Keller IBM Schweiz zum zweiten Mal. Er hatte 2014 den Staffelstab an Nachfolger Thomas Landolt übergeben, von dem er nun wieder übernahm.

Die Mitarbeiter des Unternehmens in der Schweiz forschen an Blockchain, Kryptografie, Cloud-Technologie und Nanotechnologie. Stark ist IBM in der Finanzbranche: SIX entwickelt Sicherheitslösungen mit IBM Watson, IBM und Avaloq bauen eine Cloud für Banken. Eine Plattform mit der UBS automatisiert internationale Transaktionen. Swiss Re war der erste Versicherer, der auf Watson setzte. Mit Nestlé arbeitet IBM daran, per Blockchain eine grössere Transparenz in der Lieferkette bei Lebensmitteln zu schaffen.

Wer konkurriert mit Ihnen um die begehrten Fachkräfte in der Schweiz?
Google hat mit ihrem europäischen Entwicklungszentrum einen starken Standort aufgebaut, die ETH ist ein Magnet. Das spüren wir. Auch die Konkurrenz in den Branchen selbst nimmt zu. Zum Beispiel entwickeln sich Automobilhersteller immer mehr in Richtung Softwareunternehmen. Das ist in Deutschland ein grosses Thema. In der Schweiz übt die Entwicklung in der Finanzbranche Druck aus. Banken und Versicherungen sind bereits gut aufgestellt, jetzt holen die Mittelständler auf. Die bewerben sich um Talente, die normalerweise zu uns oder unseren Mitbewerbern gehen würden.

Wie fühlt man sich als «Dinosaurier» neben dem hippen Google?
Dinosaurier ... (lacht). Ganz gut, immerhin muss man attestieren, dass IBM seit 107 Jahren existiert. Es gibt kein anderes Tech-Unternehmen, das das von sich sagen kann. Und es gibt kein Tech-Unternehmen in der Schweiz, das bereits neunzig Jahre hier vor Ort ist. Sicher, ab einer bestimmten Grösse besteht die Gefahr einer gewissen systemimmanenten Schwerfälligkeit. Ein Unternehmen mit rund 360 000 Mitarbeitern und einer Präsenz in mehr als 170 Ländern kann nicht immer so agil handeln wie ein Mittelständler mit 500 Angestellten, der nur in der Schweiz aktiv ist.

Wo ist IBM schwerfällig?
Allenfalls im Bereich des Change Managements. Dass Mitarbeiter veränderte Arbeitsweisen nicht nur intellektuell verstehen, sondern sie wirklich leben und verinnerlichen, das ist die grösste Herausforderung. Wir haben vor vier Jahren angefangen, Design Thinking und agile Projektplanung einzuführen. Da sind wir noch nicht überall, wo wir sein wollen.

Gilt das auch für die Schweiz?
In der Schweiz haben wir den Vorteil, dass wir uns in einem relativ begrenzten Markt bewegen, der aber hoch kompetitiv ist. Wir können gar nicht anders, als uns weiterzuentwickeln, weil wir von unseren Kunden gefordert werden. Auch der Mix aus weltweit führenden Grossunternehmen und einem sehr technologieaffinen und wettbewerbsfähigen Mittelstand zwingt uns einfach dazu. Darum sehe ich die Schweiz weit vorne.

IBM investiert in grossem Umfang in Blockchain. Ob diese jemals die erhofften Leistungen bringt, ist aber offen.
Diese Frage ist noch nicht beantwortet. Aber der Reifegrad der Blockchain ist ein ganz anderer, als er noch vor 24 oder 18 Monaten war. Und die Entwicklung wird in diesem Tempo weitergehen. Es gibt unterschiedliche Blockchain-Konzepte. Wir glauben, dass sich die sogenannte Permissioned Blockchain im B2B-Geschäft durchsetzen wird, in der sich die Teilnehmer untereinander kennen.

«Die rasche Verfügbarkeit von 5G ist ein kritischer Erfolgsfaktor für die Schweiz

Im Gegensatz zur dezentralisierten Blockchain wie beim Bitcoin.
Dort bleiben die Teilnehmer anonym, im Dunkeln. Wir glauben, dass nur die Transparenz der Teilnehmer und die gleichzeitige Sicherung der Informationen durch Verschlüsselung funktioniert – wie zum Beispiel beim Joint Venture von IBM und dem Logistikkonzern Mærsk, um Waren zu transportieren. Eine Blockchain lebt vom Ökosystem, vom Austausch. Die Idee besteht darin, ganze Wertschöpfungsketten radikal zu vereinfachen und manuelle Fehler weitestgehend zu eliminieren, indem viele Abläufe automatisiert werden.

Durch Blockchain soll Bürokratie reduziert werden. Beim Transport einer Avocado aus Costa Rica in den hiesigen Supermarkt sind dreissig Parteien involviert und rund hundert Personen. Ist ein System, dass eine solche Logistikkette abbildet, nicht auch wieder ausufernd komplex und schwer beherrschbar?
Das ist ja genau der Grund, warum wir Automatisierung und künstliche Intelligenz benötigen: um Komplexität zu minimieren. Wir werden nicht zu Sklaven der Technologie, sondern verbessern sie laufend und setzen diese bewusst ein, damit sie uns das Leben erleichtert. Vieles braucht jedoch noch Zeit. Das Autonome Fahren zum Beispiel: Allein die Datenmengen, die dabei laufend anfallen, müssen in Sekundenbruchteilen analysiert, entsprechend interpretiert und verarbeitet werden; dafür braucht es ganz andere Bandbreiten, als heute verfügbar sind.

Also 5G?
5G ist dabei eminent wichtig. Mit der Verbreitung des Internet of Things wächst die Zahl der miteinander verbundenen Geräte rasant, es entstehen neue digitale Anwendungen in Wirtschaft und Gesellschaft. Daraus resultiert ein gigantischer und rasch zunehmender Datenstrom, der schnelle mobile Kommunikationsnetze benötigt. Die rasche flächendeckende Verfügbarkeit von 5G ist deshalb für die Schweiz ein kritischer Erfolgsfaktor. Deshalb war der knappe Entscheid des Ständerates gegen höhere Grenzwerte für Mobilfunkantennen enttäuschend.

Warum?
Jetzt werden voraussichtlich Tausende zusätzliche Antennen benötigt. Das hätten wir uns sparen können. Es hätte der Schweiz gut angestanden, wenn sie bei der Einführung von 5G eine Vorreiterrolle eingenommen hätte.

Mit wie viel Verzögerung rechnen Sie denn durch den Entscheid? Die Swisscom hat ja ihre Ankündigung revidiert, dass sie 2018 noch starten möchte.
Es geht weniger darum, dass sich 5G verzögert, es wird nur einfach teurer. Verzögerungen entstehen vor allem dadurch, dass mehr Antennen gebraucht werden, also neue Antennenstandorte gefunden werden müssen, gegen die es Einsprüche geben kann. Es wäre viel eleganter und einfacher gewesen, wenn man die bestehenden Standorte einfach hätte aufrüsten können.

Betrifft das viele Ihrer Projekte?
Indirekt ja. Wir sind kein Telko-Unternehmen, aber unsere Kunden und wir sind auf grössere Bandbreiten und Netzverfügbarkeiten angewiesen, um die vielen Digitalisierungsprojekte realisieren zu können.

Das Geschäft von IBM ist in vielen Bereichen sehr langfristig, die Börse fordert kurzfristige Resultate. Warren Buffett hat seine Anteile verkauft. Liefern Sie nicht genug?
Das sind immer Zyklen. Die Börse und der Markt haben eine eigene Entwicklung. Lange Zeit wurde uns vorgeworfen, dass wir zu wenig gewachsen seien. Jetzt sind wir zwei Quartale hintereinander gewachsen, nun steht die Marge in der Kritik. Sicher, wir wissen, dass die Marge nicht in dem Masse gewachsen ist, wie es wünschenswert wäre. Aber es gibt Zeiten, da steht das Marktwachstum im Vordergrund, und es gibt andere Zeiten, wo die Profitabilität im Fokus ist. Entscheidend ist, die richtige Balance zu finden, insbesondere wenn Sie ein Geschäft umbauen oder wenn sich eine ganze Industrie transformiert.

Anfang Jahr hat IBM erstmals nach mehr als fünf Jahren Wachstum ausgewiesen. Wie viel Gelassenheit kann sich IBM gegenüber seinen Anlegern noch leisten?
Gelassen können wir in unserer Industrie gar nicht sein – deswegen gibt es uns seit über 107 Jahren. Wir müssen mit dem Markt mitgehen und wollen unsere Position halten und weiter ausbauen. Dabei geht es weniger um Aktionismus, als vielmehr darum, neue Trends frühzeitig zu erkennen und sich entsprechend aufzustellen. Deswegen investieren wir jährlich erhebliche Beträge in unsere Forschung und Entwicklung.