An der Wall Street dürfte Guido Appenzeller zweifellos als Pechvogel des vergangenen Jahres durchgehen. Sieben Jahre ist es her, dass der deutsche Doktorand zusammen mit Sergej Brin und Larry Page den Geschäftsplan für die Web-Firma Google entwarf. Und der war so gut, dass Page und Brin eine Woche später in Andy Bechtolsheim, Mitbegründer von Sun Microsystems, ihren ersten Investor fanden. Der Rest ist Geschichte – mit einem kleinen Schönheitsfehler für Appenzeller. Er stieg nicht bei der Firma ein, sondern blieb an der Stanford University. «Tja, das ist wohl einfach Pech», sagt er heute. «Da sind mir vermutlich ein paar Dutzend Millionen Dollar durch die Lappen gegangen.»

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Wohl wahr. Die Gründer von Google sind seit dem Börsengang im August vergangenen Jahres Internetmilliardäre, die Suchmaschine ist an der Börse inzwischen über 72 Milliarden Dollar wert. Und der ungebremste Höhenflug der Google-Aktie lässt viele an die guten alten Zeiten der New Economy denken. «Wir erleben in den USA derzeit ein wahres IPO-Fieber», jubelte Charles Schwab, Gründer des gleichnamigen Discountbrokers, im Februar. Das Volumen der Börseneinführungen in den USA stieg in den ersten drei Monaten dieses Jahres um 47 Prozent auf 10,1 Milliarden Dollar. Das ist der höchste Wert in einem ersten Quartal seit fünf Jahren. Als Hauptgrund machte Charles Schwab die robuste Konjunktur aus, welche die Nachfrage nach Aktien deutlich belebe. «Wir haben eine starke Wirtschaft», erklärte der Börsenprofi selbstbewusst. «Ich bin sehr zuversichtlich.»

Tatsächlich verzeichneten die USA im letzten Jahr das höchste Wirtschaftswachstum seit 1999. Dies führte zu einem durchschnittlichen Anstieg der Unternehmensgewinne von 13,5 Prozent im vierten Quartal und ermutigte viele Firmen zum Sprung aufs Börsenparkett. Gleichzeitig sank dadurch der Bedarf etablierter Unternehmen an der Mittelbeschaffung über den Kapitalmarkt. Auch die Investment-Banken an der Wall Street, allen voran Morgan Stanley, hatten Grund zum Jubeln: Im Schnitt kassierten sie 5,7 Prozent an Provisionen für die Begleitung einer Börseneinführung.

Das Volumen einer Börseneinführung lag im Durchschnitt bei 259 Millionen Dollar und war damit 51 Prozent höher als vor einem Jahr. Alles wie gehabt also? Nicht ganz. Einem hoffnungsfrohen IPO-Jahresanfang folgte ausgerechnet im Wonnemonat Mai die Ernüchterung. Die Zahl der Anträge auf eine Kotierung verringerte sich im Vergleich zum Vorjahr dramatisch: Zuletzt waren in den USA nur noch 114 Initial Public Offerings mit einem Wert von 20,9 Milliarden Dollar angemeldet, ein klarer Rückgang gegenüber den 160 Deals im Wert von 29,1 Milliarden im Vorjahr. «Es war, als hätte jemand mit einer Nadel in einen Luftballon gestochen», befand verwundert Reena Aggarwal, Professor für Finanzen an der Georgetown University. «Die Investoren scheinen quasi über Nacht wieder risikoscheuer geworden zu sein.»

Das zeigte sich nicht nur in den USA, auch in der Schweiz hat die Stimmung schnell gekehrt. Der katastrophale Start der Biotechfirma Arpida und die Absage des IPO von Speedel dürften weitere Wachstumsfirmen von einem Börsengang abhalten. «Speedel war eine recht reife Firma, und wenn die das IPO nicht durchzieht, wird die Messlatte für andere noch schwieriger zu erreichen sein», sagt Daniel Wittmer, CEO der Privatbank Rüd Blass, die beim Börsengang von Speedel als Co-Leader vorgesehen war.

Der plötzliche Stimmungsumschwung ist im notorisch volatilen IPO-Markt nichts Ungewöhnliches. Zwar wird dessen Aktivität immer wieder gern als Frühindikator für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung herbeigezogen. Genauso oft liegen die Auguren freilich falsch. «Von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt reichte die Palette allein in den vergangenen zwölf Monaten», lacht Joe Hammer von der Investment-Bank Adams Harkness & Hill in Boston. «Meiner Beobachtung nach reflektieren die Neuemissionen am Ende letztlich immer die Stimmung am Gesamtmarkt. Geheime Botschaften kann ich da keine erkennen.»

Eines ist klar: Die Gründe für die jüngste Abkühlung des IPO-Marktes haben zum einen mit der mässigen Performance vieler Newcomer zu tun. Von den sechs amerikanischen Unternehmen, die etwa im April den Sprung an die Börse wagten, werden heute gerade zwei – der Eisenbahnwaggonhersteller FreightCar America und der Erdgaskonzern PRB Gas Transportation – über ihren jeweiligen Ausgabekursen gehandelt. Dagegen gab die Online-Werbefirma Fastclick gleich am Tag nach dem Börsengang Anfang April um 13 Prozent nach und befindet sich seither im Sinkflug. Und Gravity, zu Deutsch «Schwerkraft», ein Entwickler von Onlinespielen aus Südkorea, machte seinem Namen unrühmliche Ehre: Der Kurs sank seit der Erstkotierung an der Nasdaq im Februar um beinahe 50 Prozent. «Wir leben derzeit ganz klar in einem Marktumfeld, das mehr an fundamentalen Daten interessiert ist als an blumigen Zukunftsversprechungen», sagt David Menlow, Präsident der Marktforschungsfirma IPO Financial. «Das Prinzip Realität hat das Prinzip Hoffnung abgelöst.»

Klar ist auch: Die Sarbanes-Oxley Act und die damit verbundenen hohen Kosten und verschärften Haftungsbedingungen haben die Hürde für viele Newcomer deutlich erhöht. Und das ist eine gute Sache, findet Greg Salkow, Wall-Street-Veteran und Ex-Portfolio-Manager beim Vermögensverwalter US Trust. «Nach den oftmals haarsträubenden Erfahrungen der Dotcom-Ära ist es absolut unerlässlich, gerade in diesem Segment neues Vertrauen zu schaffen. Deshalb nämlich, weil ein gut funktionierender IPO-Markt für unsere Wirtschaft von allergrösster Bedeutung ist» (siehe Nebenartikel «Interview mit Wall-Street-Profi Gregory M. Salkow: Der Kauf von Neuemissionen ist immer ein Minenfeld»).

Während vor fünf Jahren selbst skurrile Online-Klitschen Börsenmilliarden wert waren, schauen die Investoren heute sehr viel genauer hin. Neben soliden Gewinnen sind tragfähige Geschäftsmodelle gefragt. So wird bereits im Vorfeld der Börsennotierung die Spreu vom Weizen getrennt. «Safe is sexy», titelte das «Money Magazine» im Hinblick auf die aktuelle Palette der Börsengänge. Die Folgen des neuen Konservatismus sind klar: Investoren wenden sich von High- und Biotech ab und setzen lieber auf bodenständige Sektoren wie Energie. Selbst eine renommierte Investment-Bank wie Lazard musste Anfang Mai am unteren Ende der Preisspanne losgeschlagen werden und wird seither deutlich unter ihrem Ausgabekurs von 25 Dollar gehandelt. «Börseneinführungen umgab früher die Aura des Glamourösen», sagt Tom Taulli von der Marktforschungsfirma Current Offerings. «Heute scheint das Motto zu sein: Je langweiliger, desto besser.»

Kein Geld verlieren ist das aktuelle Ziel der meisten Investoren. Nicht zuletzt deshalb war auch der Börsengang des Nahrungsmittelherstellers Emmi ein grosser Erfolg. Als Nächstes dürfte die Immobiliengesellschaft Mobimo rund 100 Millionen Franken Geld von frischen Aktionären einsammeln. Mobimo-Verwaltungsratspräsident Alfred Meile spricht von einem «gewaltigen Bedürfnis nach Sicherheit», und sein Geschäft sei auch ganz einfach zu erklären. Man könne die Immobilien anschauen und brauche keine Märchen zu erzählen. Auch im Land des Risikokapitals gehören Unternehmen, die nicht gerade mit dem Glamourfaktor von Google aufwarten können, zu den erfolgreichen IPO. «Richtiggehend einschläfernd», lästert Tom Taulli sogar.

Vor ein paar Jahren galten Börsengänge als Erfolg versprechendes Mittel, um jungen innovativen Unternehmen den Weg in die Profitabilität zu ebnen. Wer damals das IPO für seine Firma ablehnte, war verdächtig. Heute haben sich die Vorzeichen gewandelt: Statt Euphorie und Aufbruchstimmung herrschen nüchterne Kalkulationen vor. Anleger kaufen den Internet- und Biotechläden ihre angeblichen Erfolgsgeschichten nicht mehr ab, und Unternehmen beklagen die miese Stimmung an den Kapitalmärkten sowie den Aufwand, der mit einer Börsenkotierung verbunden ist. In diesem Spannungsfeld ist eine regelrechte Pattsituation entstanden – keine Seite bewegt sich aus ihrer Deckung heraus, weil sie sonst schmerzhafte Rückschläge befürchtet.

Dass die Börsengänge von Fastclick, Icagen & Co. zuletzt nicht gerade begeistert aufgenommen wurden, verstärkt die Zurückhaltung. Stattdessen finanzieren sich die Firmen aus der zweiten Reihe mit Fremdkapital und aus dem Cashflow, oder sie lassen sich vom Markt fortkaufen. Mark Heesen, Präsident der National Venture Capital Association, bestätigt den Trend: «Viele verkünden vollmundig ihren bevorstehenden Börsengang und hoffen insgeheim, so ihre Chancen zu erhöhen, von einem grossen, etablierteren Player übernommen zu werden.

Oft klappt das Spielchen: Microsoft akquirierte zuletzt Sybari, ein Unternehmen für Sicherheitssoftware, nachdem dieses seinen IPO-Antrag gestellt hatte. Und Ende April übernahm Johnson & Johnson das Biotechunternehmen Peninsula Pharmaceuticals, das ebenfalls gerade dabei war, sich für die Börse fein zu machen. «Die meisten Venture-Capitalists würden ihre Kandidaten zwar lieber an die Börse bringen, aber bei dem momentan eher nüchternen Klima freut man sich am Ende über den Spatz in der Hand», bestätigt Mark Heesen. «Das ist einer der Gründe, warum wir in den kommenden Monaten wieder eine verstärkte Akquisitionstätigkeit erleben dürften.»

Für Anlageprofi Tom Taulli ist ausgerechnet die Tatsache, dass viele der Börsenneulinge aus dem Hightech- und Biotechbereich zuletzt einen eher holprigen Start hatten, freilich ein Grund zum Einstieg. Er sei fest davon überzeugt, dass zum Beispiel Fastclick oder etwa auch DexCom, ein Hersteller medizinischer Geräte, nach ihrer Neuemission vor allem deshalb unter die Räder kamen, weil die allgemeine Marktstimmung gegen sie war. «Die Unternehmen selbst sind kerngesund», so Taulli. Für mutige Investoren sei dies die beste Zeit, um die Trümmer der jüngsten Börsengänge aufzusammeln. Für Anleger kann es nun mal besser sein, wenn der Preis im vorbörslichen Handel kräftig gedrückt wird oder der Kurs in den ersten Wochen unter Beschuss gerät. «Wenn es Unternehmen in diesem schwierigen Gesamtmarkt überhaupt gelingt, den Kapitalmarkt anzuzapfen, spricht das nur für sie. Genau das sind die Zeiten, in denen man viel verdienen kann: Wenn Neuemissionen zu einem Discount gehandelt werden statt zu aufgeblasenen Preisen.»

Grundsätzlich der Börse abgeneigt sind die US-Firmen nicht, doch es müsse eine «gewisse Begeisterung» dafür in der Luft liegen. Einen IPO-Durchbruch auf breiter Front erwartet auch Greg Salkow nicht: «Der Börsengang der Suchmaschine Google hat viele Begehrlichkeiten geweckt. In Amerika ist aber die Nachfrage der Investoren nach IPO auf breiter Front eingebrochen, und eine drastische Neubelebung erwarte ich nicht.»

Anders dagegen der Trend an den europäischen Börsen: Von Januar bis März 2005 wagten sich insgesamt 96 Unternehmen auf das Börsenparkett, 40 mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Der Wert aller Erstkotierungen an Europas Handelsplätzen stieg laut Untersuchung von PricewaterhouseCoopers um rund zehn Prozent auf 5,76 Milliarden Euro. Schon im vergangenen Jahr hatte Europa die USA bei der Anzahl der IPO überholt.

Der wahre Boom spielt sich allerdings auch bei den Börsengängen in Asien ab. Von den weltweit mehr als 1500 Neukotierungen von Unternehmen stammt beinahe die Hälfte aus Asien. China hat Japan bei der Kapitalaufnahme fast eingeholt, insgesamt flossen gut 12,5 Milliarden Dollar mittels IPO in chinesische Firmen, das waren nur 0,4 Milliarden Dollar weniger als in japanische. Auch Indien liefert längst nicht mehr nur günstige Waren, die Firmen auf dem Subkontinent profitieren vom günstigen Geld der Anleger. Sie haben laut einer Studie der Beratungsfirma Ernst & Young im vergangenen Jahr ihre IPO-Erlöse mehr als versechsfacht. Und der Trend dürfte im laufenden Jahr weitergehen, die Experten von Ernst & Young rechnen allein für den indischen Markt nochmals mit einer Verdreifachung von 2,8 auf knapp 9 Milliarden US-Dollar, die durch Börsengänge in die Firmenkassen fliessen.

Dagegen ist die kleine Schweiz schon fast ein IPO-Entwicklungsland, 2004 wurden gerade mal knapp 600 Millionen Franken aufgenommen. Gleichzeitig schütteten die Schweizer Firmen insgesamt fast 24 Milliarden Franken als Dividenden oder Aktienrückkäufe an ihre Eigentümer aus (siehe BILANZ 9/2005). Neue, weitgehend unbekannte Unternehmen gehören zur höchsten Risikoklasse. Jeweils am Ende eines Börsenbooms ist der Risikohunger am grössten. So gesehen, ist die Rückkehr zur Normalität wohl gar kein allzu schlechtes Zeichen.

«Es ist zu früh, einen Trend ausmachen zu wollen, aber die Leute werden langsam nachdenklich», sagt Colin Blaydon, Professor für Private Equity and Entrepreneurship an der Tuck School of Business. Aber es ist eine Stimmung im Markt für Hochzinsanleihen, die derzeit alle nervös macht. «Tatsächlich kam es ab der zweiten Märzhälfte in den High-Yield-Märkten zu einem regelrechten Ausverkauf. Die Probleme von General Motors und die Turbulenzen bei den Automobilanleihen wirkten dabei als Katalysator, der diesen Prozess beschleunigte. Der eigentliche Grund ist allerdings, dass High Yields inzwischen zu hoch bewertet waren und der Markt heiss lief. Nach zwei aussergewöhnlich guten Jahren könnte daher Normalität in diesem Segment einziehen.

Laut Greg Salkow heisst Normalität aber auch, dass sich Anleger in Zukunft wieder verstärkt marktbreiten Aktien von Unternehmen mit hoher Solidität zuwenden – mit negativen Folgen für potenzielle Börsengänger. «Der Kapitalfluss in solche Blue Chips bedeutet keine rosige Perspektive für Neuemissionen.»

Für Guido Appenzeller, den Doktoranden von der Stanford University, der nicht bei Google einsteigen wollte, könnte das erneut eine schlechte Nachricht bedeuten. «Geld ist nicht alles», sagt er zwar. Vom grossen Durchbruch an der Wall Street träumt der Wissenschaftler aus dem Silicon Valley insgeheim allerdings noch immer. Guido Appenzeller hat inzwischen eine eigene Firma mit Namen Voltage gegründet, die sich um Netzwerksicherheit kümmert. Das Unternehmen ist erfolgreich und das Ziel klar formuliert: der Börsengang.