Sommer, Sonne, Ferien, Abschalten – endlich Zeit haben für andere Dinge als die mit Sitzungen überfrachtete Agenda oder die Mission «Inbox Zero». Wir können uns für einmal ausgiebig Zeit nehmen für Familie, Freunde, Sport und für uns selbst. Da ist die Versuchung gross, zum viel gepriesenen Wundermittel Digital Detox zu greifen. Bloss, ist digitale Entgiftung wirklich das richtige Rezept für ungetrübten Urlaubsgenuss mit lang anhaltendem Erholungswert? Für eilige Leser hier die Antwort in der vor dem Urlaubsstart gebotenen Kürze: Jein!

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Das Ja findet Anhänger bei der in unserer Gesellschaft tief verwurzelten Work-Life-Balance-Bewegung. «Nein», werden Knowledge Worker einwenden, bei denen sich die Nach-den-Ferien-ausgeruht-und-mental-aufgeladen-sein-Halbwertszeit in null Komma nix von Wochen- in Minuten-Sphären verflüchtigt angesichts der überquellenden Inbox bei der Rückkehr.

Technologie disrumpiert nicht die Branchen

Studien belegen, dass die Mehrheit aller Digitalisierungs-Initiativen in der Schweiz nicht den Nutzen stiften, den man sich ursprünglich versprochen hat. Dieses Scheitern hat auch damit zu tun, dass die Führungsetage das eigentliche Wesen der Digitalisierung bis heute verkennt.

Es ist nicht die stetige Weiterentwicklung der Technologie, die immer mehr Branchen und deren Wertschöpfungsprozesse disrumpiert. Vielmehr sind es mutige Menschen, die verrückt genug sind, Probleme und elementare Bedürfnisse anderer weiterzudenken und damit besser zu befriedigen. Dies mag in der Ausführung durchaus auch technologiegeprägt passieren – aber eben nicht allein.

Es gibt Führungskräfte, die nicht ohne Stolz die Umwandlung ihres Rechnungsarchivs von Bundesordnern in PDFs in der Private Cloud als Digitalisierungserfolg verkaufen. Tatsächlich ist die Relevanz von archivierten PDFs für die Kunden ziemlich überschaubar, ähnlich wie volle E-Mail-Server. Selbst Projekte mit höherem Buzzword-Koeffizienten werden den Kundenrelevanz-Lackmustest nur selten bestehen.

Patrick Comboeuf

Patrick Comboeuf: Der Studiendirektor HWZ und Ex-Digitalchef bei SBB und Swiss Life ist einer der profiliertesten digitalen Vordenker der Schweiz. Für die BILANZ schrieb er einen Gastbeitrag.

Quelle: ZVG

Digitalization Detox statt Digital Detox

Lassen wir uns deshalb nicht blind von künstlicher Intelligenz, Augmented Reality & Co. verführen. Denn wer wenig weiss, muss viel glauben. Fokussieren wir stattdessen auf mehr Augmented Humanity als Symbiose von menschlichem Verstand und Technologie. Gerade BILANZ-Leser und -Leserinnen als Avantgarde unserer Wirtschaft sind gefordert, mit gutem Beispiel voranzugehen. Bringen wir in den kommenden Ferienwochen unsere Work-Think-Life-Balance ins Lot. Die Kundenrelevanz-Digitalisierungswelle rollt an. Damit wir sie gut erwischen, braucht es nicht Digital Detox, sondern Digitalization Detox.

Verbannen wir austauschbare «Elektrifizierungsprojekte», und schaffen wir Raum für gestaltende Initiativen mit Relevanz für Kunden, Mitarbeitende und ein übergeordnetes Ecosystem. Der österreichische Philosoph und bekennende Akzelerist Armen Avanessian erkennt hinter Digitalisierung nicht nur Plattformen, auf denen gedacht wird, sondern mittels deren gedacht wird.

Gedanken in Ferien anregen

Die Ferienzeit bietet eine ideale Gelegenheit, dieses Denken abseits von vollgepackten Agenden wieder mehr zu schärfen. Deshalb: Lest Fachartikel und Blogposts zum Thema, hört oder seht euch Pod- und Videocasts an (ja, auf YouTube gibt es nicht nur niedliche Katzen oder Schminktipps). Gerade LinkedIn-Inhalte laden geradezu zum Kommentieren ein. Dies regt neben der Diskussion oft die eigenen Gedanken zusätzlich an.

Und für alle, die bis hierhin gelesen haben, noch ein kleiner Tipp: Tragt die Zeit, die ihr zum Abarbeiten der während der nächsten Wochen eintrudelnden E-Mails braucht, in den Terminkalender ein. Selbst wenn es den gesamten ersten Arbeitstag dauert. Wer schon im Voraus für Ordnung sorgt, dem bleibt das Ferienfeeling länger erhalten!

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