Im Jahr 2007 lebten erstmals mehr Menschen in Städten als ausserhalb. Es war ein Wechsel, der über 5'000 Jahre aufgegleist worden war. Das Internet kam schneller an diesen Wendepunkt. Heute ist mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung online – bloss ein Vierteljahrhundert, nachdem das World Wide Web bei technisch gewitzten Westlern ans Licht gekommen war.

Die zweite Halbzeit der Internet-Revolution hat begonnen. Sie wird verändern, wie unsere Gesellschaft funktioniert. Und sie wird eine neue wirtschaftliche Landschaft schaffen.

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Die neuen User kommen zumeist aus den Schwellenländern; allein in den letzten drei Jahren gingen 727 Millionen Menschen online. China wächst dabei immer noch schnell, aber ein grosser Teil des Anstiegs kommt aus ärmeren Weltgegenden, insbesondere aus Indien und Afrika.

Bildung für Bauern? Oder Porno?

Nach all dem, was Fake News und Trolls im öffentlichen Diskurs der reichen Länder angerichtet haben, befürchten nun viele Beobachter, dass damit auch die Politik dort weiter verdorben; Beispiele wären die Polarisierung der indischen Wählerschaft oder die Verfolgung der Rohingya-Minderheit in Myanmar. Auf der Plus-Seite reden Hilfswerke und ihre Mitarbeiter oft und ernsthaft darüber, wie Bauern nun per Handy die Erntepreise checken können, wie die ländliche Bevölkerung Online-Bildung erhält und wie Ärzte dank Smartphones die Impfraten verbessern können.

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Dieser Beitrag wird im Rahmen der Partnerschaft der HZ mit dem «Economist» veröffentlicht. Übernahme und Übersetzung mit Genehmigung.

Quelle: © The Economist

Weniger beachtet wird, dass die zweite Hälfte der Menschheit vom gleichen Stoff angezogen wird wie die erste: Es geht ums Zusammensein und um Games, nicht um Arbeit und Selbstperfektionierung.

Porno ist populär. Messaging-Apps helfen, mit Freunden in Kontakt zu bleiben: Dank ihnen können Wanderarbeiter ihren Kindern daheim Gutnacht sagen. Die Menschen unterhalten ihre Freunde – und Fremde – in sozialen Medien mit albernen selbstgestrickten Videos auf YouTube oder TikTok. Raubkopierte Filme gelangen zu Millionen Menschen, die vielleicht noch nie in einem Kino waren. Dating-Apps sind beliebter als Ackerbau-Tipps; und Videospiele sind gefragter als beides zusammen.

Solche Segnungen finden kaum je Eingang in einen UN-Entwicklungsbericht. Aber dem allgemeinen Glück der Menschheit geben sie einen Schub.
Den Unternehmen eröffnet die zweite Hälfte des Internets einen gewaltigen Kundenstamm. Zugleich bereitet sie Kopfzerbrechen – die neuen User sind meist zu arm, um hier sehr viel Geld auszugeben.

Solche Segnungen finden kaum je Eingang in einen UN-Entwicklungsbericht. Aber dem Glück der Menschheit geben sie einen Schub.

Dutzende Milliarden Dollar an Risikokapital flossen in Internet-Startups in Schwellenländern ausserhalb von China. Die Silicon-Valley-Giganten haben sich grosse User-Communities aufgebaut – es gibt über 1,5 Milliarden Facebook-Nutzer in Entwicklungsländern. YouTube wird mehr und mehr von nicht-westlichen Usern beherrscht. Letztes Jahr gab Walmart 16 Milliarden Dollar für die Übernahme des indischen E-Commerce-Riesen Flipkart aus. Jumia, ein E-Commerce-Unternehmen mit 4 Millionen Kunden in Nigeria und 13 weiteren afrikanischen Ländern, ging im April an die New Yorker Börse.

Gesamtumsatz = Comcast

Trotz ihrer hohen Bewertungen sind solche Unternehmen nach wie vor auf der Suche nach nachhaltigen Geschäftsmodellen. Reliance Jio, eine indische Firma, hat 37 Milliarden Dollar für den Aufbau eines Highspeed-Handynetzes und für den Erwerb eines grossen Stamms von zumeist ärmlichen Nutzern ausgegeben.

Jeder Facebook-Nutzer in Asien bringt nur 11 Dollar Werbeeinnahmen pro Jahr – verglichen mit 112 Dollar pro User in Nordamerika.

In den Schwellenländern werden die Internet-Firmen etablierte Konzerne schneller zerstören, als dies in der reichen Welt der Fall war.

Der Gesamtumsatz aller Internet-Unternehmen in den Schwellenländern (ohne China) beläuft sich auf etwa 100 Milliarden Dollar pro Jahr. Das ist ungefähr so viel wie Comcast schafft, Amerikas 31.grösste börsennotierte Firma. Oder etwas mehr als der Jahresumsatz von Nestlé.

Trotzdem wird der Einfluss dieser Konzerne aufs Business zunehmen, in zweierlei Hinsicht.

  • Erstens werden sie rasch wachsen (ob schnell genug, um die heutigen Bewertungen zu rechtfertigen, ist eine andere Frage). Um ihre Chancen zu maximieren, bieten viele Firmen nicht bloss einen Service, wie es bei westlichen Unternehmen anfangs üblich war, sondern sie bündeln mehrere Dienstleistungen in einer App: Dadurch soll mehr Geld pro Nutzer verdient werden. Dieser Ansatz wurde von Alibaba und Tencent in China entwickelt. Go-Jek in Indonesien hat Mitfahrgelegenheiten genauso im Angebot wie Payment-Dienste, Rezepte für Medikamente und Massagen. Facebook treibt ein digitales Zahlungssystem in Indien über seinen Chatdienst WhatsApp voran.
  • Der zweite Punkt: In den Schwellenländern werden die Internet-Firmen etablierte Unternehmen wahrscheinlich schneller zerstören – «disrupten» –, als dies in der reichen Welt der Fall war. Denn deren Infrastruktur – wie Lagerhallen oder Ladenflächen – ist weniger gross, und solch eine Infrastruktur wirkt auch als Eintrittsbarriere. Viele Menschen, vor allem ausserhalb der Grossstädte, haben ohnehin keinen Zugang zu ihren Dienstleistungen.

Die Hersteller von Bier, Shampoo oder anderen Konsumgütern dürften rasch feststellen, dass die Digitalisierung des Marketing aufstrebenden Marken hilft, schnell an Fahrt zu gewinnen. Banken werden gezwungen sein, sich schnell auf digitale Zahlungssysteme einzulassen, sonst gehen sie unter.

So gesehen steht eine gewaltige Summe auf dem Spiel – der Gesamtmarktwert der etablierten Unternehmen in den Schwellenländern ausserhalb Chinas beträgt 8 Billionen Dollar.

Wenn Sie dachten, dass der erste Teil der Internet-Revolution umwälzend war, dann warten Sie nur, bis Sie den zweiten Akt erleben.

Dieser Beitrag erschien am 8. Juni 2019 im «Economist» unter dem Titel: «You ain't seen nothing yet». Online unter: «The internet’s next act. The second half of humanity is joining the internet».