Herr Ohnemus, Sie sagen: «Das heutige analoge Krankenkassensystem hat ausgedient.» Was steckt hinter der Prophezeiung?
Peter Ohnemus*: Die Kassen stehen vor zwei Problemen: Zum einen wird die Gesellschaft immer älter und der Anteil an Übergewichtigen nimmt stetig zu. Zum anderen sind die Kosten für die Behandlung des Patienten im Verhältnis zu den Prämien explodiert. EY sagt einen jährlichen Kostenanstieg der Prämien von 6 Prozent im Verlauf der nächsten zehn Jahre voraus – global. Ich kenne keinen, der jedes Jahr eine Lohnerhöhung von 6 Prozent erhält. Viele können sich ihre Prämien bald nicht mehr leisten. Das ist der Anfang vom Ende der analogen Krankenkassen. In Grossbritannien haben wir die erste Pleite: Der National Health Service (NHS), das grösste Krankenkassenwesen Europas, ist bankrott. Dasselbe droht längerfristig auch den Schweizer Krankenkassen.

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Ist das die Schuld der Übergewichtigen, der Raucher und derjenigen, die wegen Lappalien zum Arzt gehen?
Teilweise ja. Viele Menschen haben sich angewöhnt zu denken, sie könnten leben, wie sie wollten – ohne Konsequenzen. Wenn 50 Prozent der Bevölkerung übergewichtig sind, hohen Blutdruck haben oder Diabetes, wälzen sie das einfach auf die Krankenkasse ab. Irgendwann kann diese die Kosten nicht mehr tragen. Gleichzeitig sind die analogen Kassen nicht auf die Kostenexplosion vorbereitet. Diese fängt bereits im Gesundheitssystem an, wo Arbeitsvorgänge mehrfach wiederholt werden und die Datenerfassung wie im Steinzeitalter anmutet.

Lassen Sie mich raten: die Digitalisierung ist die Lösung.
Richtig. Nehmen Sie die Darmspiegelung als Beispiel. Diese Routine-Untersuchung kostet ein Spital zwischen 1200 und 2000 Franken. In den USA gibt es mittlerweile die «Pill Cam». Diese schlucken sie zuhause, die Kamera fährt durch den Körper und sie erhalten digitale Bilder über Bluetooth – ohne Schmerzen. Der Patient verfügt über seine eigenen Daten und die Krankenkasse hat 80 bis 90 Prozent eingespart. So eine digitale Alternative gibt es zu vielerlei herkömmlicher Behandlungen – nur kommen sie nicht zum Einsatz, da die Regierung sich im digitalen Bereich viel zu langsam entwickelt.
Der Gesundheitsmarkt ist der einzige, der keine nachweisbare Leistungsbilanz hat. Dacadoo füllt diese Lücke, indem sie die Gesundheit quantifiziert – und sich somit zum Beispiel messen lässt, wie effektiv die Behandlung einer Krankheit oder der effektive Gesundheitszustand einer Person ist.

Eine Bilanz für den Menschen: Wie funktioniert das?
Wir haben Daten wie Alter, Gewicht, Bluttyp und Blutfett von 100 Millionen Menschen ausgewertet und daraus einen Index erstellt, den Health Score. Dieser umfasst Werte von 1 bis 1000. Er wird aus drei Säulen berechnet: Meinem Körper, also meinen biometrischen Daten, meinen Gefühlen – «Wie geht es mir?» – und meinen Aktivitäten, das heisst: «Wie viel bewege ich mich, wie schlafe ich, wie viel Stress bin ich ausgesetzt?». 30-35 Prozent der Angaben basieren auf vererbten Eigenschaften des Individuums, 65 bis 70 Prozent basieren auf dem jeweiligen Lebensstil. Dieser zweite Faktor wird in heutigen Krankenkassen-Prämien nicht berücksichtigt.

Wie können Krankenkassen von Ihrem Health Score profitieren?
Mit dem Index kann eine Kasse ihre Versicherten quantifizieren. Eine Person mit einem Gesundheitsindex-Wert von 700 ist billiger, eine mit einem Wert von 234 sehr teuer. Kassen können die Daten verwenden, um ihre Kostenstrukturen zu optimieren, digitalisieren und sich zu vergleichen. Die CSS nutzt als erste Schweizer Kasse unseren Health Score. Sie stellt die App ihren Kunden zur Verfügung, die so motiviert werden, gesünder zu leben. Krankenkassen haben verständlicherweise ein Interesse an gesunden Kunden.

Gibt es nicht schon viele solcher Apps?
Doch, aber unser Index ist viel umfassender. Anstatt dass ich eine einzelne App fürs Joggen, fürs Kalorienzählen und für meine Schlafzyklen nutzen muss, werden bei Dacadoo alle drei Aspekte in den Health Score eingespiesen. Für die Zukunft planen wir, eine Funktion anzubieten, durch welche die App beim Gang in den Supermarkt registriert, welche Produkte eine Person einkauft.  Sie merkt, ob ich Poulet und Salat kaufe oder eben doch am Chips-Regal hängen bleibe. Das System registriert, ob man sich gut ernährt und passt den Health Score automatisch an. Unsere App wird künftig ausserdem fähig sein, autonom zu lernen. Sie wird also mit Smart-Watches oder Nanosensoren in Pflasterform verknüpft sein, die Kalorienzufuhr, Körpertemperatur und Puls direkt an den Health Score übermitteln.

Und was ist der Vorteil für mich als Versicherten? Ich will nicht unbedingt, dass die Krankenkasse künftig weiss, wie oft ich joggen gehe oder ob ich gelegentlich ein Glas Wein zu viel trinke.
Dacadoo basiert auf der Idee, dass Ihr Privatleben von Ihrem Health Score getrennt ist – Ihre privaten Daten gehören nur Ihnen. Bis heute hat keine Krankenkasse Einblick in Ihren Health Score. Wenn Sie sich in Zukunft dafür entscheiden, Ihre Daten mit einer Krankenkasse zu teilen, könnte ein entsprechend guter Health Score mit Prämienrabatten belohnt werden. Schlussendlich entscheidet die Privatperson, ob sie die Daten ihrer Krankenkasse zur Verfügung stellen will.

Prämien basierend auf einem Health Score sind das Ende des Solidaritätsprinzips. Chronisch Kranke werden diskriminiert.
Das Solidaritätsprinzip der Krankenkassen soll für Menschen auf jeden Fall erhalten bleiben, die krank geboren wurden. Es ist aber nicht solidarisch, wenn Herr Müller – übertrieben gesagt – jeden Tag zehn Bier trinkt und 30 Zigaretten raucht, während Frau Meier gesund isst, Yoga macht – und sie dann die Krankenkassenkosten von Herrn Müller abdeckt.

Was, wenn Frau Meier – gegen aller Erwartungen – Krebs kriegt und Herr Müller nicht: Zahlt er dann nicht für ihre Pflege?
Eine 100-prozentig faire Welt gibt es leider nicht. Eine vollständig ausgeglichene individuelle Berechnung wäre einfach zu teuer. Das ist wie beim Fliegen: Dort zahlt man auch nicht pro individuellem Körpergewicht, sondern pauschal pro Person. Ist das fair für leichte Passagiere, die beim Koffer trotzdem für das Übergepäck bezahlen müssen?

Mit welchen Unternehmen ausser Krankenkassen arbeiten Sie zusammen?
Unternehmen geben unseren Health Tracker bereits an ihre Mitarbeiter heraus
: etwa Roche, Die Post, Migros und Takeda Europe. Der grösste Markt sind jedoch Krankenkassen und Lebensversicherungen: Sie haben am meisten zu verlieren, aber auch zu gewinnen. Sie stehen unter Druck, sich an die neue mobile Generation anzupassen. Die Berechnung der Prämien wird dort in Zukunft viel mehr auf dem Lebensstil des Versicherten  basieren – also indexbasiert sein.

Sind die Krankenkassen noch zu retten?
Es gibt in der Branche viel potenzielles Wachstum – etwa bei Zusatzversicherungen, es gibt viel Unterversicherung. Um das Potenzial auszuschöpfen, muss sich die Krankenkasse aber rasch bewegen: Die Krankenkasse hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg kaum verändert, arbeitet mit 30 bis 40 Jahre alten Applikationen. Sie hat sich jahrelang darauf ausgeruht, gut zu verdienen und nicht in die neuen Technologien investiert – und wird plötzlich von einer gigantischen Umstellung überrollt. Die neuen, jüngeren Manager müssen jetzt schnell reagieren, um das Ruder noch rumzureissen. Der digitale Mensch wartet nicht.

*Peter Ohnemus ist Gründer und CEO von Dacadoo. Er war 2004 Mitbegründer des Finanzdienstes ASSET4 und hielt unter anderem Vorstandspositionen bei Sybase, Logic Works und COS.

Redaktorin Caroline Freigang
Caroline Freigangschreibt seit 2019 für den Beobachter – am liebsten über Nachhaltigkeit, Greenwashing und Konsumthemen.Mehr erfahren