Mit dem Standardsatz «Wir haben viele gute Bewerbungen für die Stelle bekommen, weshalb wir Sie noch um etwas Geduld bitten» werden Bewerberinnen und Bewerber erst mal vertröstet, wenn sie ihr Dossier eingereicht haben. Tatsächlich ist die Zahl der Bewerbungen trotz tiefer Arbeitslosenquote in der Schweiz bei einzelnen Stellen riesig – vor allem bei beliebten Firmen. Die Schweizer Laufschuhikone On etwa hat allein im letzten Jahr 200’000 Bewerbungsdossiers erhalten, wie die «Sonntagszeitung» kürzlich schrieb. Das Blatt führt die Flut an interessierten On-Mitarbeitenden aber nicht nur auf den Nimbus der Firma zurück, sondern auch auf die Tatsache, dass künstliche Intelligenz den Rekrutierungsprozess auf beiden Seiten befeuert. Die Bewerber schustern sich ihre CVs mithilfe von Chat GPT, Copilot und Co. in Windeseile zusammen. Eine Bewerbung online zu verschicken, kostet heute einen Bruchteil so viel Zeit wie früher. Die Firmen wiederum bewältigen den Ansturm, indem sie die Ersttriage zunehmend der Maschine überlassen. Sogenannte Parser, welche die Lebensläufe mithilfe von KI scannen, sind zumindest bei grösseren Firmen schon Standard, bei KMU beginnt die Entwicklung langsam.
Das Wettrüsten ist aus Produktivitätssicht nachvollziehbar. Doch die Entwicklung ist mit Skepsis zu betrachten. Ob durch diese Art Selektion tatsächlich die besten Talente mit den ausgeschriebenen Jobs zusammenkommen, ist fraglich.
Die Gastautorin
Karin Kofler ist regelmässige Gastkolumnistin und selbstständige Publizistin.
«KI-basierte Rekrutierungssysteme suggerieren eine Scheingenauigkeit», sagt Matthias Mölleney, Leiter des Center for Human Resources Management & Leadership an der HWZ Hochschule für Wirtschaft in Zürich. Die Firmen glauben, durch den gesetzten Algorithmus die erste Sichtung passgenauer durchführen zu können und somit eine schnellere und vergleichbarere Kandidatenbasis zu haben. Lebensläufe werden nach Keyword-Listen gefiltert. Fehlen zwei von zehn Begriffen oder sind sie anders formuliert, landet das Dossier im Aus. Welche Schlüsselwörter gesetzt werden, ist das gut gehütete Geheimnis jedes Unternehmens. Mittlerweile verdient eine ganze Industrie Geld damit, Bewerbenden in teuren Kursen die Tricks gegen Parser-Systeme beizubringen: Schlüsselwörter streuen, CVs aufpimpen, Dossiers in Onlinetools vor dem Versenden auf Keyword-Tauglichkeit testen, um die Chancen zu optimieren.
Doch selbst dann ist Erfolg nicht garantiert: Ist etwa das Alter als Filter programmiert, nützen die Stichworte nichts. Die Absage ist programmiert. Von einem System abhängig zu sein, dessen Spielregeln man nicht kennt, verursacht bei vielen Jobsuchenden das Gefühl von Unbehagen und einer unfairen Selektion.
Offenbar zu Recht: Denn auch aus der Wissenschaft kommen kritische Töne. So haben die Autoren einer 2025 publizierten Studie der New York University Chat GPT mit der Selektion verschiedener gleichwertiger Lebensläufe nach bestimmten Kriterien betraut. Das Resultat des Experiments war alarmierend. Zum einen tendierte Chat GPT dazu, den ersten präsentierten CV als besten zu selektionieren. Zum anderen bestätigte der Versuch die gängige Befürchtung, dass KI Diskriminierungen nicht egalisiert, sondern sogar noch fördert. «Chat GPT hat nicht nur die Fähigkeit, vergangene Vorurteile zu übernehmen, sondern kann auch völlig neue Vorurteile entwickeln, die sich möglicherweise erst bei wiederholter Verwendung mit bestimmten Eingaben und in bestimmten Kontexten zeigen», schreiben die Autoren. Wer KI ohne angemessene Sicherheitsvorkehrungen einsetze, um Einstellungsentscheide zu treffen, solle die Studienergebnisse als das sehen, was sie sind: eine Warnung.