Ein Patient mit unklaren Symptomen betritt die Notaufnahme. Während Ärzte noch rätseln, analysiert eine künstliche Intelligenz (KI) bereits in Sekundenschnelle seine Krankenakte, gleicht die Daten mit Millionen von Fällen ab, schlägt eine präzise Diagnose vor – und rettet so ein Leben. Was vor wenigen Jahren noch Science-Fiction war, wird Realität: KI verspricht nicht nur eine Revolution in der Diagnostik, sondern auch eine tiefgreifende Veränderung der gesamten Branche bis hin zur ärztlichen Intervention.

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KI und Krebs: ein Paradigmenwechsel  

In der Onkologie ermöglichen es sogenannte OMICS-Analysen bereits heute, mithilfe von KI aus kleinsten Gewebeproben Hunderttausende Datenpunkte algorithmisch zu analysieren und präzise Vorschläge für Tumorbehandlungen anzubieten. Entscheidungsprozesse von Ärzten beruhen hingegen auf einer Analyse von nur 10 bis maximal 50 Parametern. «Entweder wir ignorieren einen Grossteil dessen, was wir wissen könnten, oder wir setzen auf KI. Einen dritten Weg gibt es nicht», so Prof. Dr. Andreas Wicki vom Tumorzentrum des Universitätsspitals Zürich. Besonders in Bereichen der Bildverarbeitung wie Radiologie und Pathologie bewegt sich viel: «Wir sind froh, wenn wir fehlendes Personal mit KI kompensieren und den Fachkräftemangel ausgleichen können», so Wicki.

Datenbasierte Medizin als Chance für die Schweiz

Auch Dr. Sarah Vermij vom Swiss Personalized Health Network (SPHN) betont die Wichtigkeit der Förderung datenbasierter Medizin. Das SPHN ist eine nationale Forschungsinfrastruktur, die strukturierte medizinische Daten von über 700’000 Patienten für KI-getriebene Forschung in der Schweiz verwaltet. Über 120 Forschungsprojekte nutzen diese Daten heute. Vermij betont, dass die zentrale Wichtigkeit hierbei sei, die Datenqualität bereits an der Quelle der Erhebung zu verbessern. So zeigen Beispiele aus den Niederlanden, dass KI ärztliche Gespräche automatisch transkribieren und Berichte generieren kann, wodurch die Präzision der Erfassung verbessert und der administrative Aufwand fürs Fachpersonal erheblich reduziert wird. So wird mehr freie Zeit geschaffen, damit Ärzte sich stärker auf patientennahe Tätigkeiten konzentrieren können.

Benjamin Bargetzi zählt zu Europas meistgefragten Vordenkern im Bereich Künstliche Intelligenz und Neuroforschung. Er berät globale Grössen wie Klaus Schwab zu Zukunftstechnologien und arbeitete für Google, Amazon und das WEF. 

Gesundheitskosten und das Versicherungswesen

Dr. Bram Stieltjes vom Universitätsspital Basel sieht in KI das Potenzial, das Versicherungssystem grundlegend zu revolutionieren. So könnte die Notwendigkeit privater Krankenversicherungen sinken oder gar gänzlich entfallen. «Versicherungen leben von den Ängsten und Unsicherheiten der Menschen und Staaten. Nun aber bringt KI dank tiefgehender Datenanalyse mehr Transparenz in die eigentlichen Fakten», so Stieltjes. «Das wird das Versicherungssystem und seine Lobby stark aufrütteln. Und das ist gut so.» Gleichzeitig kritisiert er den enormen Administrationsprozess und die Bürokratie des Gesundheitswesens: «Das ist komplett überflüssig und verursacht nur Kosten. Das kann man mit KI alles ersetzen.» Gemäss Stieltjes wird sich das Pflegepersonal letztlich niemals die Mühe nehmen, Daten richtig aufzubereiten und zu sammeln, denn es steht massiv unter Druck. «Es ist ja nicht so, dass Ärzte und Pflegende absichtlich schlechte Notizen machen – es passiert einfach im Alltag.» Ohne bessere Technologie zur Dateneinlesung wird es auch keine gute KI geben. «Menschen, die direkt am Kranken arbeiten, werden in Zukunft gebraucht, aber alle Arbeiten, die mit Daten, Texten, Analysen und Bildmaterial zu tun haben, werden bald automatisiert werden», so Stieltjes.

Altersmedizin im Wandel: KI als Lebensretter

Dr. Tobias Meyer ist Altersmediziner und experimenteller Forscher an der Universitären Altersmedizin Felix Platter in Basel. In seiner Arbeit vertraut er stark auf Technologie: Ein Foodscanner erfasst automatisch, ob und was ein Patient isst, um Mangelernährung frühzeitig zu erkennen. Mittels Radarsensoren werden Bewegungen von Patienten in Echtzeit erfasst und so eine KI-basierte Notfallerkennung möglich, etwa bei Stürzen oder Herzinfarkten. Man kann sich vorstellen, wie Sensoren im Spital und im Pflegeheim Signale an eine KI senden, um statistische Vorhersagemodelle zu erstellen, die Risikoanzeichen frühzeitig erkennen und eine schnelle Intervention erlauben. Gleichzeitig sieht Meyer hier einen Spannungsbereich zwischen technologischem Fortschritt und individueller Selbstbestimmung: Er plädiert für ein Opt-out-Modell, sodass Patienten selbst entscheiden können, ob sie derartige KI-gestützte Assistenzsysteme nutzen. Letztlich, so seine Vision, könnten KI-basierte Sensor-Spitäler die Sicherheit älterer Menschen nachhaltig verbessern. Die Frage nach der Privatsphäre bleibt Entscheidung des Individuums.

Datenchaos: Bremst der Schweizer Föderalismus die KI?

Prof. Dr. Catherine Jutzeler von der ETH Zürich glaubt ebenfalls an die medizinische KI, warnt jedoch: «Jedes Krankenhaus nutzt andere Systeme und Datengrundlagen. Dieser Datenföderalismus erschwert schweizweite KI-Lösungen.» Zudem hindere die veraltete Datenerfassung mit Papier und Fax den Aufbau einer leistungsfähigen KI-Infrastruktur, während Länder wie Estland oder Finnland hoch digitalisiert sind. Lückenhafte medizinische Daten stellen eine weitere Hürde dar, da subtilere Hinweise (beispielsweise, ob jemand bleich oder unruhig ist) oft nicht systematisch vom Fachpersonal erfasst werden, wodurch einer KI die nötigen Informationen fehlen, um überhaupt gleich gut wie Ärzte zu agieren. Technologien wie Augmented-Reality-Brillen, die in Echtzeit Patientengespräche und Dokumente erfassen, könnten hier Abhilfe schaffen.

Frederik Wetzel, Gründer des Schweizer Medical KI Start-ups Chiron Services, pflichtet Jutzeler bei. «Während Länder wie die USA oder China stark auf datengetriebene Gesundheits-Start-ups setzen, ist die Schweiz oft zögerlich. Wir laufen Gefahr, dass unser Gesundheitssystem in der Bürokratie erstickt.» Gleichzeitig betont er die Notwendigkeit einer sicheren KI-Implementierung, da auch die besten Systeme Fehler machen und gehackt werden können. «Dazu braucht es mehrstufige KI-Systeme, die sich gegenseitig kontrollieren, sowie weiterhin menschliche Expertise als zusätzliche Kontrollinstanz.»

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Gesundheit ist mehr als nur eine Diagnose  

Dr. Stephen Milford ist Bioethiker und Philosoph an der Universität Basel, der den Unterschied zwischen künstlicher Intelligenz und menschlichen Ärzten untersucht. Seine Forschung zeigt: Nicht nur der Ratschlag, sondern auch die Qualität der Arzt-Patienten-Beziehung selbst hat einen kausalen Einfluss auf die Gesundheit des Patienten. Dies bestätigt eine Studie der WHO. Bereits in wenigen Jahren jedoch, so Milford, würden Personen in den unteren Tarifen des Schweizer Gesundheitssystems beim ersten medizinischen Kontakt nicht mehr mit einem Menschen sprechen. «Stattdessen übernimmt ein Chatbot die Ersteinschätzung, die Diagnose, die Koordination und die Triage. Die ökonomischen Anreize für Versicherer sind da – und sie könnten sich auf Daten berufen, die belegen, dass KI in vielen Fällen genauso gut oder besser arbeitet als ein Mensch.» Dennoch bleibt für Milford klar: Eine KI kann nicht ersetzen, was Menschen spirituell und psychologisch im Miteinander heilt.

Demgegenüber steht eine Studie an der University of California, in der KI-Konversationen als empathischer, personalisierter und qualitativ besser bewertet wurden als jene von echten Ärzten. Könnten wir Menschen gar mit einem humanoiden Roboter-Arzt eine vertraute Arzt-Patient-Beziehung aufbauen? 

Fazit: KI als Werkzeug für eine bessere Medizin

Ob administrative Tätigkeiten, Bilderkennungssysteme, Sensorik, Datenauswertung oder Literaturrecherche, KI wird das Gesundheitswesen effizienter und präziser machen – doch sie bleibt ein Werkzeug. KI wird den Arzt (noch?) nicht ersetzen, sondern ihn entlasten und bestärken. Die Herausforderungen liegen in der zugrundeliegenden Datenqualität, der technologischen Infrastruktur, der Schulung des Personals und der ethischen Verantwortung. Die Schweiz hat dank ihrer starken Forschungslandschaft das Potenzial, hier eine Vorreiterrolle einzunehmen – wenn sie die Weichen jetzt richtig stellt.

Mit dem Aufkommen intelligenter Chatbots verändert sich auch das Verhalten der Patienten. Viele kommen mit einer durch eine KI vorgefertigten Meinung und einem Informationsvorsprung in die Praxis – oft fundiert, manchmal fehlgeleitet. Die Rolle des Arztes verschiebt sich: weg vom reinen Wissensvermittler, hin zum Lotsen durch einen zunehmend komplexen Informationsdschungel. Wichtiger als klassisches Sachwissen werden die tatsächliche, reale Erfahrung, der klinische Blick sowie das Erfassen von Nuancen im individuellen Kontext. Langfristig könnten durch präventive KI-Medizin die Gesundheitskosten drastisch sinken. Für Spitäler und medizinisches Personal hingegen steigen erst mal die Anforderungen. Es braucht bessere Technologie, fundierte Weiterbildung und mehr Zeit für den einzelnen Menschen – und das hat seinen Preis. 

Maschinen werden in den kommenden Jahren in vielen medizinischen Bereichen – etwa bei lebensrettenden Operationen oder Diagnosen – eine höhere Präzision erreichen als der Mensch. Und doch werden die Ärzte nicht einfach über Nacht verschwinden, selbst dann nicht, wenn die Maschine objektiv bessere Ergebnisse liefert. Das Gehirn des Homo sapiens wurde schliesslich über 300’000 Jahre hinweg auf soziale Interaktionen mit anderen Menschen trainiert, wodurch wir eine biologische, instinktive Präferenz für menschliche Ärzte in uns tragen.

Wie wird sich dies ändern, wenn die ersten humanoiden Roboter die Gesellschaft erreichen, die nicht nur so sprechen, sondern auch aussehen wie wir?