Daniel Gremli hat keinen Zweifel, dass er mit seiner Geschäftsidee richtig liegt. «Virtual Reality ist da, um zu bleiben», sagt der 33-jährige Startup-Unternehmer. Im September 2015 hat er mit zwei Mitstreitern die Firma Bandara gegründet. Sie nennt sich Virtual Reality Content Studio. Nun sitzt er in einem spärlich möblierten Raum in einem Coworking-Space in Zürich und demonstriert, was die Zukunft bringen soll: Virtuelle Realität, also Videos im 360-Grad-Format und aufwendig kreierte Computerwelten, in die Nutzer per Datenbrille eintauchen.

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Gremli greift zu einem Headset, das per Kabel mit einem leistungsstarken Computer verbunden ist. An der Wand hängen zwei Sensoren, die Bewegungen verfolgen. Wer die Brille aufsetzt und zwei Kontrollgriffe in die Hand nimmt, findet sich in einer künstlichen Welt wieder, in der man sich frei bewegen kann – allerdings ist dieser virtuelle Raum auf 4 mal 4 Meter begrenzt. «Wer solch eine Brille noch nie ausprobiert hat, dem zeigen wir das Programm Tilt Brush von Google», sagt Gremli. «Danach ist jeder von der Virtual-Reality-Technik überzeugt.»

Das stimmt. Denn wer sich zum ersten Mal mit Virtual Reality (kurz VR) beschäftigt und das 3D-Malprogramm von Google probiert, ist verblüfft. Der Nutzer kann mithilfe der beiden Hand-Controller pinseln oder sprayen. Mehr noch: Er bewegt sich frei in seinem Kunstwerk, kann es von allen Seiten betrachten und natürlich auch verändern.

Programme wie Tilt Brush sind nur ein Beispiel der vielen Möglichkeiten der Technik. VR und die Schwester-Technologie Augmented Reality (AR) erhalten sehr viel Aufmerksamkeit. Optimisten reden euphorisch von der nächsten digitalen Revolution. Für Skeptiker ist es hingegen eine Technik, an der zwar schon seit vielen Jahren getüftelt wird, die sich aber eher langsam etablieren wird.

Konzerne pushen die VR-Technik

Sicher ist: Es sind spannende Zeiten. Nun entscheidet sich, ob die Technologie zum ernst zu nehmenden Business Case wird, der das Leben von Konsumenten sowie die Arbeit von Unternehmen grundlegend verändert. Oder ob VR und AR im Stadium von gut gemachten Demo-Versionen verharren, die zwar super aussehen, denen aber wirklich guter Inhalt fehlt. Derweil pushen Hersteller wie Samsung, HTC, Microsoft und Sony das Thema. Auch Facebook-Chef Mark Zuckerberg ist davon überzeugt. Er zahlte 2 Milliarden Dollar, als er vor zwei Jahren den Datenbrillen-Anbieter Oculus kaufte. Google kündigte im Mai dieses Jahres den Start seines Daydream-Sytems an, inklusive einer eigenen VR-Brille. In wenigen Wochen soll es dazu mehr Infos geben. Vor zwei Jahren hatte Google mit seiner VR-Brille aus Pappe eine günstige Einstiegsdroge in das VR-Erlebnis vorgestellt. So gibt es von der Papiervariante bis hin zur hochkomplexen Datenbrille mit Sensoren mittlerweile viele Möglichkeiten, die Technik zu nutzen (siehe dazu auch diese Bildergalerie).

Für die Analysten von IDC besteht kein Zweifel, dass der Markt rasant wachsen wird. Laut den Marktforschern wird der globale Umsatz für AR und VR bis zum Jahr 2020 auf 162 Milliarden Dollar steigen; dieses Jahr liegt das Marktvolumen bei 5,2 Milliarden Dollar. Jahrelang seien AR und VR lediglich Science-Fiction gewesen, so IDC-Analyst Chris Chute. Doch leistungsfähige Smartphones und preiswerte Headsets beflügelten jetzt nicht nur den Konsumentenmarkt, sondern etablierten VR und AR in den nächsten Jahren auch in Medizin, Ausbildung und Industrie.

«Einige Firmen sind noch zu zögerlich»

Und was geht in der Schweiz? «In Sachen VR und AR ist hierzulande eine Menge los», sagt Markus Gut, Chief Creative Officer bei der Werbeagentur Y&R Group Switzerland. «Ich habe allerdings manchmal das Gefühl, dass einige Firmen noch zu zögerlich sind, obwohl sich virtuelle Realität auf jeden Fall durchsetzen wird – und das gilt längst nicht nur für Computerspiele

Der Einstieg in die neue Welt gelingt oft über 360-Grad-Videos. Sie lassen sich auch mit Smartphone und Desktop-Rechner anschauen, vermitteln aber erst dann ihren oft spektakulären Eindruck, wenn man mindestens eine Pappbrille oder noch besser eine Datenbrille trägt. So präsentieren Medien ihre Stories immer öfter als 360-Grad-Film. Auch bei Konzerten und Fussballspielen sollen die Zuschauer das Gefühl bekommen, mittendrin zu sein. Ein beeindruckendes Projekt setzt die Genfer Firma Kenzan Studios um: Die Besteigung des K2, des zweithöchsten Berges der Welt, alles in 360 Grad produziert.

Es geht natürlich auch eine Spur weniger spektakulär: So lancierte der Detailhändler Coop 360-Grad-Videos von Supermarkt, Restaurant und Logistikzentrum (siehe auch Video unten), um damit für die Rekrutierung zu werben. Die Machart: Spassige, nicht ganz ernst gemeinte Filme in der Art eines Musikvideos, alles andere als dröge Industriefilme. So will Coop bei der Jugend punkten. VR kann also im Bereich Marketing sinnvoll sein. Ideal ist diese Technik auch in der Touristik: Wer sich vor den Ferien einen Eindruck davon verschaffen möchte, wie es vor Ort aussieht, kann sich mit Google Street View umsehen. Das wirkt mit 3D-Brille viel intensiver als am normalen Bildschirm. Und wer in eine neue Wohnung einziehen will, transportiert sich per VR-Brille direkt ins neue Heim. So entsteht ein echtes Raumgefühl, das mit herkömmlichen Fotos und Videos überhaupt nicht zu erreichen ist.

Mit der Gottardo-App über die Alpen fliegen

Doch so faszinierend die Rundum-Filme auch sein mögen: «Bei VR-Projekten ist es wichtig, darauf zu achten, dass der Betrachter nicht überfordert wird», sagt Andreas Hüppi, Mitgründer der Firma Bitforge in Zürich, die VR-Anwendugen, Apps und Computerspiele entwickelt. «Schliesslich kann der Nutzer in alle Himmelsrichtungen blicken, er muss sich zurechtfinden können bei den vielen Informationen.» Eines der grössten Projekte, die Bitforge umsetzte, ist die Gottardo-App. Der Nutzer fliegt mit Pappbrille oder VR-Brille über den Gotthard und informiert sich über das Bahnprojekt. «Das ist sehr viel aufwendiger, als nur ein 360-Grad-Video zu erstellen», sagt Hüppi. «Der realistische Look des Gebirges muss stimmen.» Ein weiteres Projekt von Bitforge war der Nachbau einer grossen Industrieanlage. Dabei handelt es sich um eine Mühle der Firma Bühler in . Bitforge kreierte das fünfstöckige Gebäude mit allen Maschinen und Silos, sodass der Nutzer mit einer Datenbrille das Gefühl bekommt, durch das Gebäude zu gehen. «Eine solche komplexe Industrieanlage zu erkunden, gibt dem Betrachter viel besser die Möglichkeit, ein Gefühl für die Dimensionen zu bekommen», sagt Hüppi.

Auch beim Industriekonzern ABB stösst das Thema VR auf Interesse. Beim Unternehmen wird VR zum Beispiel dafür genutzt, neue Kontrollräume von Industrieanlagen virtuell zu testen. Davide Scalia, der als Service Solution Manager bei ABB arbeitet, erklärt weitere Möglichkeiten. Er steht in einem Kontrollraum von ABB in Baden und zeigt auf einen Monitor: «Wir können von solch einem Raum aus weltweit von ABB gelieferte Maschinen auf Kundenwunsch überwachen, zum Beispiel den Antrieb einer gigantischen Mühle in einer Kupfermine.» Und: «Solche Maschinen liefern uns nicht nur grosse Datenmengen, die wir in Echtzeit analysieren können, sondern haben meist auch sehr umfangreiche Handbücher. Dies alles liesse sich relativ einfach in einer Datenbrille darstellen, für den Fall, dass es einen Techniker benötigt.» Die Idee, mithilfe von VR und AR in der Industrie effizienter und auch kostengünstiger zu arbeiten, fasziniert viele in der Branche: So könnte ein Monteur direkt alle Daten mit einem Blick auf einen verschlossen Schaltschrank bekommen – eingeblendet in seine Brille.

Bei solchen Dienstleistungen wollen auch Firmen wie Swisscom mitmischen. «Bei uns hat VR und AR einen grossen Stellenwert», sagt John Rice, Innovation Director bei Swisscom. «Die Schweizer Industrie hat einen hohen Exportanteil. Den Support mithilfe von VR und AR zu machen, kann viel Geld sparen.» Swisscom nutzt VR- und AR-Technik nicht nur für das eigene Marketing, sondern bereits auch zur Weiterbildung: Mitarbeiter für Swisscom-Shops können sich von ihrem Schreibtisch aus virtuell per Datenbrille treffen, um Kundengespräche im Shop zu üben. «So muss nicht jeder Mitarbeiter extra ins Swisscom-Ausbildungszentrum nach Olten fahren.»

Schweizer Startups sind erfolgreich

Zur Wahrheit in Sachen virtuelle Realität gehört allerdings auch, dass die Dichte an VR- und AR-Brillen sowohl in Schweizer Büros als auch in Wohnzimmern noch sehr überschaubar ist. Zumal die Geräte auch einige Nachteile bei der Benutzerfreundlichkeit aufweisen. Wer will schon stundenlang eine solche Brille tragen? Der Nutzer schwitzt im besten Fall. Im schlimmsten Fall wird ihm richtig übel, wenn er durch virtuelle Welten reist.
Immerhin: Die Technik ist mittlerweile sehr gut darin, neue Erlebnisse zu ermöglichen, vor allem beim Sehen und Hören. Das mit dem Fühlen muss sich allerdings noch deutlich verbessern, weshalb viele VR-Forscher genau daran tüfteln. «Eines der aufregendsten Schweizer Projekte ist diesbezüglich sicherlich Birdly», sagt Markus Gut. «Der an der Zürcher Hochschule der Künste entwickelte Vogelflugsimulator ist ein gelungenes Beispiel, wie ein Schweizer Startup mit einer VR-Idee weltweit grosse Beachtung findet.» Der Nutzer liegt dabei mit VR-Brille auf künstlichen Schwingen, der Gegenwind kommt aus einem Gebläse vor dem Gesicht (siehe dazu das Video unten). «VR braucht immer einen konkreten Nutzen, sonst bleibt die Technik lediglich Show», sagt Gut.

Besonders erfolgreich hat diese Erkenntnis die Firma Mindmaze aus Lausanne umgesetzt. Sie bietet eine Kombination aus 3D-Technik und Virtual Reality, um den Heilungsprozess bei Patienten zu beschleunigen, etwa nach einem Schlaganfall. Dies ist ein enormer Nutzen, der sich erst durch VR-Technik umsetzen liess. Der ökonomische Gewinn dieser Idee hat ebenfalls nicht lange auf sich warten lassen: Mindmaze ist inzwischen mehr als 1 Milliade Dollar wert. Das ist eine Sensation für ein Startup aus der Schweiz.