Die Abgeordneten des britischen Unterhauses haben entschieden: Mit 432 gegen 202 Stimmen haben sie das Abkommen über den Austritt aus der Europäischen Union abgelehnt. Mitte November hatten die Europäische Kommission und die britischen Verhandlungsführer eine Einigung nach monatelangen zähen Verhandlungen erreicht. 

Das britische Parlament hätte schon im Dezember darüber abstimmen sollen, denn die Zeit ist ohnehin knapp: Am 29. März wird Grossbritannien offiziell aus der EU ausscheiden – mit oder ohne Abkommen. Doch der von Premierministerin Theresa May ausgehandelte Deal war sehr umstritten im Unterhaus und das für Dezember vorgesehene Votum vertagt. Doch auch das Ringen um einen Kompromiss nach mehrtägiger Parlamentsdebatte hat gezeigt: Die Mehrheit des Parlaments steht nicht hinter Mays Deal.

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Theresa May hätte 320 Stimmen gebraucht, um den Vertrag zu ratifizieren. Doch nur 202 stimmten dafür: die meisten aus der konservativen Partei; drei Labour- und drei unabhängige Abgeordnete stimmten auch dafür. Rund 100 konservative Brexit-Hardliner stimmten dagegen. Die Labour-Partei lehnte den Deal mehrheitlich ab, dazu hatte ihr Chef Jeremy Corbyn aufgerufen, denn er spekuliert bei einem Scheitern auf Neuwahlen. Auch die kleineren Oppositionsparteien im Parlament stimmten gegen den Brexit-Deal; viele befürworten ein zweites Referendum.

Die Abstimmung ist eine historische Niederlage und die Folgen noch nicht absehbar. Die Premierministerin hat nur drei Tage Zeit, um einen neuen Vorschlag vorzulegen. Diese Szenarien sind möglich: 

1. No Deal

Werden nach dem Scheitern des Vertrags keine weiteren Schritte unternommen, käme es zum No-Deal-Brexit. Denn das Austrittsdatum 29. März ist verbindlich, das heisst ab 30. März würde Grossbritanniens Mitgliedschaft im EU-Binnenmarkt und der Zollunion schlagartig enden.

Die Folgen eines solchen Chaos-Brexit wären schwerwiegend. Der britische Unternehmerverband CBI warnt vor einem Einbruch der Wirtschaft mit Arbeitsplatzverlusten einem BIP-Rückgang von bis zu 8 Prozent. Die Bank of England erwartet einen Absturz der Währung um 25 Prozent; die Immobilienpreise könnten um 30 Prozent einbrechen.

Die britische Wirtschaft könnte allein im ersten Jahr 30 Milliarden Pfund an Exporten verlieren, schätzt der französische Kreditversicherer Euler Hermes. Zwar in geringerem Masse, aber auch die europäischen Exporte, insbesondere aus Deutschland würden leiden.

Grenzkontrollen und Zollabfertigungen würden zu chaotischen Verhältnissen sowie erhöhten Wartezeiten und Kosten führen. Zudem würden im Falle eines No-Deal-Brexit viele Fluggesellschaften ihre Lizenzen verlieren, um von und nach Grossbritannien zu fliegen. Die EU-Kommission hatte bereits Notfallmassnahmen getroffen, um den Flugverkehr sicherzustellen. 

Auch die Schweiz traf bereits Vorkehrungen für den Fall eines ungeregelten Austritts: In den vergangenen Wochen wurden zwei bilaterale Abkommen über die künftigen Beziehungen mit dem Vereinigten Königreich geschlossen. Zum Glück ist diese Option  – selbst nach dem Votum im Parlament – unwahrscheinlich.

2. Neuverhandlung mit der EU

Die Regierung von Theresa May könnte versuchen, ein neues Abkommen mit der EU auszuhandeln. Erst einmal müsste dann eine Verlängerung von Artikel 50 des EU-Vertrags beantragt werden, um das Austrittsdatum hinauszuzögern. Diesem Schritt müssten alle EU-Mitgliedstaaten zustimmen. Allerdings hatte die EU diese Option bereits ausgeschlossen. Einige britische Abgeordnete hoffen wohl darauf, dass die EU ihre Position ändert.

3. Neuwahlen

Premierministerin Theresa May könnte vorgezogene Wahlen einberufen, um weiteren Stillstand zu vermeiden und ein neues politisches Mandat für ihren Brexit-Deal zu bekommen. Allerdings müsste das Parlament Neuwahlen erst zustimmen. Diese könnten frühestens 25 Tage später stattfinden. Auch in diesem Fall wäre eine Verlängerung der Austrittsfrist vom 29. März notwendig, welcher die EU zustimmen müsste. 

4. Misstrauensvotum 

Labour-Chef Jeremy Corbyn hat sofort nach der Abstimmung gestern Abend ein Misstrauensvotum im Parlament beantragt. Verliert die Regierung das Votum, käme es letztlich ebenfalls zu Neuwahlen. Zuvor könnten die Regierungsmitglieder einschliesslich der Premierministerin noch von der konservativen Partei ausgetauscht werden und sich einem neuen Vertrauensvotum stellen.

5. Zweites Referendum

Die Regierung könnte ein weiteres Referendum vorschlagen. Auch in diesem Fall müsste das Austrittsdatum am 29. März verschoben werden. Denn es wäre eine gewissen Vorlaufzeit notwendig, da sowohl eine Gesetzesvorlage und die Abstimmungsgrundlagen verabschiedet werden müssten. Laut Verfassungsexperten könnte dies fast ein halbes Jahr dauern. Allerdings gibt es derzeit keine Mehrheit für ein Referendum – die Führung beider grosser Parteien sind dagegen.

6. Rücktritt der Premierministerin

Theresa May könnte zurücktreten, sollte sie «ihren» Deal nicht durchbekommen und von ihrem Kurs nicht abweichen. Die konservative Partei könnte einen neuen Premierminister benennen. May könnte auch unter Druck geraten, wenn die Abgeordneten einem Misstrauensantrag stellen. Ob ein neuer Regierungschef eine Lösung herbeiführen könnte, ist dennoch ungewiss. 

7. Überparteilicher Kompromiss

Einige Regierungsmitglieder versuchen bereits May zu einem weicheren Brexit zu bewegen, dem auch die Labour-Partei zustimmen könnte. Dieser würde eine dauerhafte Zollunion mit der EU vorsehen. Damit könnte Grossbritannien keine eigenen internationalen Handelsabkommen abschliessen, würde aber einige strittige Punkte bezüglich Grenzen und Handel lösen. May selbst scheint keine Zollunion zu befürworten, ebenso wenig wie viele Unterstützer aus ihrer eigenen Partei. 

Derzeit versucht Premierministerin May einen solchen überparteilichen Kompromiss zu finden. Wie dieser aussehen sollen und ob sich die anderen Parteien darauf einlassen, ist noch unklar. 

Wie auch immer es in den kommenden Stunden und Tagen weitergeht, alle möglichen Szenarien haben eins gemeinsam: Die Zeit ist äusserst knapp und eine Verschiebung des Austrittsdatums wird wahrscheinlicher. In Brüssel rechne man bereits damit, dass Grossbritannien eine Fristverlängerung beantragen wird, berichtete der «Guardian» bereits vor einigen Tagen. Bis Juli könnte der EU-Austritt möglicherweise aufgeschoben werden – im Falle von Neuwahlen oder einem zweiten Referendum sogar noch länger.

Für Unternehmen und Investoren bedeutet dies: Die grosse Unsicherheit, die seit dem Brexit-Referendum im Juni 2016 über Grossbritannien hängt, setzt sich erst einmal fort und dürfte der britischen Wirtschaft weiter schaden. Das Risiko eines wirtschaftlich besonders schädlichen No-Deal-Brexit ist weiterhin gross – eine Rezession wäre nicht ausgeschlossen.