Die Abkürzung klingt ebenso technisch wie harmlos. Doch wenn Anwälte, Banker und Behörden von FEA sprechen, wissen sie, dass sie es mit einer tickenden Zeitbombe zu tun haben. Unter dem Terminus «Financial Elder Abuse» (FEA) verstehen Spezialisten den Versuch, an das Geld reicher alter Menschen zu gelangen. Dabei geht es nicht nur um ein paar tausend Franken, die sich per «Enkeltrick» mühelos beschaffen lassen. Es geht um Millionen. Und der Feind kommt oft nicht von einem fernen Ort. Sondern auch aus der eigenen Familie.

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«Unter Financial Elder Abuse versteht man Missbrauch einer Vertrauenssituation, etwa wenn Familienmitglieder oder nahestehende Vertrauenspersonen wie Betreuer, Pfleger, Ärzte oder Berater – beispielsweise Treuhänder oder Anwälte – sich aufgrund ihrer engen Beziehung zur älteren Person einen finanziellen Vorteil verschaffen», erklärt Tina Wüstemann, Rechtsanwältin und Partnerin bei Bär & Karrer. Beispielsweise im Zusammenhang mit einer Erbschaft, gemeinhin als Erbschleicherei bekannt.

Milliardenschäden durch finanziellen Missbrauch Älterer

«Genaue Zahlen für die Schweiz liegen nicht vor», sagt die Leiterin der Privatkunden-Abteilung der renommierten Anwaltskanzlei, «aber ich sehe vermehrt solche Fälle in der Praxis.» Statistische Daten fehlten unter anderem auch deshalb, «weil sich ältere Menschen schämen, Vorkommnisse zu rapportieren oder gar die eigenen Familienmitglieder anzuzeigen, oft auch aus Furcht vor Liebesentzug».

Das Thema ist international bekannt und in einigen Ländern besser erforscht als in der Schweiz. Der zweijährlich stattfindende Congress on Adult Guardianship traktandiert den «finanziellen Missbrauch alter und pflegebedürftiger Menschen». Die Schadensdimension in den USA wird mit jährlich 2,9 Milliarden Dollar beziffert, gemäss dem New Yorker Metlife Mature Marketing Institute gefolgt von jährlich mehreren 10 Milliarden Dollar für Untersuchungs- und Gerichtskosten, verlorene Einkommens- und Vermögenswerte.

Zu holen gibt es auch in der Schweiz viel. Das Berner Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien (Bass) schätzt, dass 2015 rund 63 Milliarden Franken in der Schweiz vererbt wurden, also rund 10 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung des Landes. Tendenz zunehmend. Mit der steigenden Lebenserwartung der Schweizer steigt auch das Alter der Erblasser. Damit verbunden ist die Gefahr, dass die reichen Alten Opfer werden von Menschen ausser-, aber auch innerhalb ihres Umfeldes, die sich einen Teil des Reichtums ergaunern wollen.

Demenz lässt Opferzahlen steigen

10 Prozent aller Senioren, schätzen Fachleute, werden Opfer von Erbschleichern. Bei Demenz steigt die Betroffenenziffer gar auf 40 bis 60 Prozent.Trickser gehen dabei nicht nur in einer strafrechtlich relevanten Art und Weise (Financial Elder Fraud) vor, sondern bewegen sich in der Grauzone des Abuse, des Missbrauchs: wenn sie die Nähe und Vertrautheit von alten reichen Menschen suchen, um sich einen hohen Startplatz fürs Erbe der umgarnten Person zu verschaffen.

Das kann sanft und anfangs unbemerkt geschehen: Plötzlich taucht ein Neffe auf, der langjährige Abwesenheit mit grosser Nähe zum reichen Onkel wettmachen will. Die gutbetuchte und hochbetagte Tante gerät immer stärker ins Netz einer einstigen Angestellten, die sich unentbehrlich macht im Leben der Greisin.

Das Glamourgirl und der Tattergreis

Es ist ein sehr privates Thema, selten dringen Informationen nach aussen. In der Öffentlichkeit sorgen schrille Fälle für Aufsehen. Etwa als die jüngst verstorbene L'Oréal-Erbin Liliane Bettencourt in hohem Alter ihrem über 24 Jahre jüngeren Vertrauten und Starfotografen François-Marie Banier knapp 1 Milliarde Euro anvertraute. Oder als Ex-Playmate Anna Nicole Smith, die als 26-Jährige den 89-jährigen texanischen Öl-Magnaten J. Howard Marshall geheiratet hatte, nach dessen Tod die Hälfte seines Vermögens von 1,6 Milliarden Dollar beanspruchte. Sehr zum Ärger der Söhne des Öl-Milliardärs, die im Vorgehen des Glamourgirls Erbschleicherei sahen: Financial Elder Abuse.

Auch vermeintlich sicher eingeschlagene Pfeiler fürs Erbe können für böses Blut sorgen. Ist der Nachlass beispielsweise über eine Stiftung geregelt, kann es zu Querelen kommen. Schlagzeilen lieferte etwa der Machtkampf um die Stefanini-Stiftung. Die Erben des betagten Kunstsammlers und Immobilienkönigs von Winterthur, Bruno Stefanini, stritten mit dem ehemaligen Stiftungsrat, der durchsetzen wollte, dass das Ernennungsrecht von Stiftungsräten nicht den Nachkommen von Stefanini zustehen sollte, falls dieser nicht mehr urteilsfähig sei. Mühselig konnten die Nachkommen die Kontrolle über die Stiftung zurückerlangen. Der Rechtsstreit dauerte Jahre.

Eine Stresssituation kann auch familiengeführten Firmen drohen, wenn der Seniorchef zwar noch in Amt und Würden ist, aufgrund seines hohen Alters aber riskiert, übervorteilt zu werden. «Etwa, wenn die Person in den Zustand der Demenz kommt oder kurz davor steht. Genau in dieser Übergangsphase liegt das Problem», sagt Heinrich Christen, Partner bei EY und Spezialist für familiengeführte Firmen.

Firmenvermögen steht auf dem Spiel

Christen schildert ein fiktives Szenario am Beispiel eines Seniorchefs, der vor der Demenz steht, aber immer noch Vollmachten hat und Gefahr läuft, übervorteilt zu werden: «Der Verwaltungsrat, der unbedingt auch mit aussenstehenden und unabhängigen Leuten besetzt sein sollte, muss das Thema erkennen und handeln.» Immerhin steht hier das Vermögen von Patron und Firma auf dem Spiel. Sollte der Seniorchef kein Einsehen haben, drohe der Extremfall: «Ein amtsärztliches Verfahren, welches die Person unter Vormundschaft stellt – damit allfälliger Schaden abgewandt werden kann.»

«Bisher lief das Thema Financial Elder Abuse gesetzlich unter dem Radar», sagt Tina Wüstemann. «Es soll nun aber im Rahmen der laufenden Erbrechtsreform aufgegriffen werden.» Konkret will der Bundesrat erreichen, dass der Erblasser künftig «höchstens einen Viertel seines Vermögens an Personen vererben kann, die aufgrund einer beruflichen Funktion in einem Vertrauensverhältnis zum Erblasser stehen». Dabei nennt der Bundesrat Ärzte oder Anwälte. Er hätte auch hinzusetzen können: «Familie».

Andreas Güntert
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