Die Botschaften der Anleihen- und Aktienmärkte offenbaren sich aufmerksamen Beobachtern häufig über seltsame Umwege und sind mitunter schwer zu entziffern. Direkt im Anschluss an das letzte Quartal des zurückliegenden Jahres war die Botschaft dagegen noch eindeutig: Dank der Entwicklung von Impfstoffen mit vielversprechender Wirksamkeit und angesichts der Konjunkturpakete – vor allem in den USA – würde das globale Wirtschaftswachstum wieder auf die Beine kommen. Der Zinsanstieg und die Hausse an den Aktienmärkten im Zuge der Outperformance der zyklischen Sektoren spiegelten diese Erwartungshaltung wider.    

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Das Bild wird unschärfer  

Dann wurde die Lage ab dem zweiten Quartal dieses Jahres in den USA und einen Monat später in Europa etwas komplizierter. Ökonomen begannen, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass sich diese Erholung rasch abschwächen könnte, woraufhin die Zinssätze wieder eine sinkende Tendenz aufwiesen. Die Aktienmärkte tobten sich dagegen dank dem Paradigma, das sie seit 2009 so gut stützt, weiter aus: Enttäuschende Konjunkturdaten gewährleisten die kontinuierliche Unterstützung durch die Zentralbanken.    

Höhere Preise, weniger Konsum  

In diesem August wurde jedoch erneut eine völlig andere Botschaft gesendet. Während die Zinssätze nach einer kurzen Kehrtwende Anfang des Monats insgesamt bei ihrer sinkenden Tendenz zu bleiben scheinen, zeigen sich die Aktienmärkte dieses Mal um einiges zögerlicher. Mit dieser neuen Phase beginnt eine neue Interpretation der Märkte.
 

Über den Autor

Didier Saint-Georges ist Mitglied des Strategic Investment Committee und Managing Director bei Carmignac. Er ist seit 2007 bei Carmignac tätig und wurde 2018 zum Mitglied des Strategic Investment Commitee ernannt. Seine Karriere begann er 1983 bei der Citibank im Bereich der Luftfahrzeugfinanzierung, bevor er 1987 in die Wertpapierbranche einstieg. Zehn Jahre lang war er für JP Morgan in London, Paris und New York tätig, wo er die Abteilung für internationale Aktien aufbaute und betreute. 1997 kam er als Managing Director zu Merrill Lynch in Paris und war dort für den Handel mit internationalen Aktien und für Derivatetransaktionen zuständig. Didier Saint-Georges ist Absolvent der ESCP (École Supérieure de Commerce de Paris) und hat einen MBA der Georgia State University. Zudem ist er Autor der beiden Bücher «Peut-on battre le marché?» und «Le libéralisme est une chose morale».         

Zunächst einmal wurde der skeptische Ausblick der Anleihenmärkte in den letzten Wochen durch mehrere in den USA veröffentlichte Wirtschaftsstatistiken bestätigt: Die Kauflust US-amerikanischer Verbraucher erweist sich trotz erheblichen zusätzlichen Ersparnissen als enttäuschend.    

Sozialhilfen laufen aus  

Eine plausible Erklärung für dieses Phänomen besteht darin, dass die Verbraucher einen deutlichen Anstieg der Konsumgüterpreise aufgrund der Spannungen in den Lieferketten feststellen, und zwar genau in dem Moment, in dem die ersten während des Höhepunkts der Krise eingeführten Sozialhilfen allmählich zurückgefahren werden.    

US-Arbeitsmarkt könnte Inflation anheizen  

Gleichzeitig hat sich die Beschäftigungslage in den USA jedoch weiter normalisiert. Bei vielen ausgeschriebenen Stellen ist sogar eine echte Spannung zwischen Angebot und Nachfrage zu beobachten und es ist für die Unternehmen schwierig, passende Kandidaten zu finden. Somit könnte auf den Preisanstieg bei Konsumgütern, der durch den vorübergehenden Anstieg der Materialpreise bedingt ist, eine länger anhaltende Inflation aufgrund eines Lohnzuwachses folgen, auch wenn die Verbraucher daran noch nicht zu glauben scheinen.    

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Drosselung der Wertschriftenkäufe noch vor Jahresende  

Folglich nähert sich für Jerome Powell, den Vorsitzenden der US-Notenbank, der Augenblick des «Casus Belli». Dieser tritt ein, wenn ihm seine Kennzahlenübersicht, aus der sich das als angemessen erachtete Leitzinsniveau ableitet, das Signal dafür gibt, dass er mit der Normalisierung seiner Geldpolitik beginnen sollte. Bevor die Zinssätze angehoben werden, werden im Zuge dieser Normalisierung zunächst die monatlichen Staatsanleihenkäufe schrittweise zurückgefahren. Nun könnte diese Drosselung aber noch vor Jahresende beginnen.    

Stagflation 2.0

Und genau dann könnte der Höhenflug der Aktienmärkte zum Erliegen kommen. Denn auch wenn diese Verschärfung der Geldpolitik in sehr kleinen Schritten erfolgt, stellt sie doch bereits an sich einen eher ungünstigen und neu einzuberechnenden Faktor dar und könnte sich überdies genau in dem Moment ereignen, in dem an den Märkten allmählich der Verdacht aufkommt, dass das künftige Wirtschaftswachstum überschätzt wurde.

Sollte dieser Fall eintreten, dann wird vielfach von einem geldpolitischen Fehler die Rede sein. Richtiger wäre es vermutlich, anzuerkennen, dass das Hauptrisiko für die Märkte zurzeit vielmehr in einer Abschwächung des Wachstums in Kombination mit Inflationsdruck besteht – also in einer Art «Stagflation 2.0» – und dass für ein solches Szenario kaum eine ideale Geldpolitik existiert.    

China weit voraus im Zyklus  

In diesem Zusammenhang sei noch erwähnt, dass China den USA und in noch grösserem Masse Europa in seinem Konjunkturzyklus weit voraus ist und diese für die Aktienmärkte äusserst heikle Etappe bereits auf seine Weise durchlaufen hat.

Die Wertentwicklung seines Marktes hat durchaus unter den Folgen dieser Phase gelitten, die im Falle dieses Landes durch eine spektakuläre Verschärfung der regulatorischen Bestimmungen verschlimmert wurde. Es wäre nicht auszuschliessen, dass sich seine relative Wertentwicklung im Vergleich zu den westlichen Märkten zumindest eine Zeit lang umkehrt. Dies gilt vor allem für seine oft erstklassigen Growth-Aktien.