Die Schweiz ist nach 14 Monaten Pandemie in einer positiven Öffnungsstimmung. Teilen Sie diesen Optimismus?

Aymo Brunetti: Die Impfung ist ein Game-Changer. Die Situation hat sich dadurch komplett geändert. Man hat auch den Eindruck, dass die Aussicht auf eine baldige Impfung dazu führt, dass sich die Bevölkerung vorsichtig verhält. Die Pandemie scheint trotz deutlichen Öffnungsschritten momentan unter Kontrolle. Und selbst bei problematischen Mutationen dürften die Impfstoffe nach aktuellem Wissensstand wirken oder anpassbar sein.

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Im Zuge der Quartalszahlen der Firmen hat man immer wieder gelesen, Unternehmen hätten Corona 'abgehakt' oder hinter sich gelassen. Können wir dies wirklich so sagen?

Die Krise hat die Unternehmen sehr viel gekostet. Grundsätzlich ist das Schlimmste der Pandemie für einen Grossteil der Wirtschaft aber tatsächlich abgehakt. Aber dies trifft natürlich nicht auf alle Unternehmen zu.

Aymo Brunetti ist seit 2012 Professor am Departement Volkswirtschaftslehre der Universität Bern. Zuvor war er neun Jahre Leiter der Direktion für Wirtschaftspolitik im Staatssekretariat für Wirtschaft Seco.

Sie meinen den Tourismus und die Gastronomie.

Dort gibt es einen 'aufgestauten' Strukturwandel. Dieser wird nun Schritt für Schritt kommen. Aber das betrifft einzelne Sektoren. Die meisten übrigen Branchen haben sehr gute Aussichten.

Werden diese stark betroffenen Sektoren wieder Tritt fassen?

Diese Branchen werden wieder Tritt fassen, aber es wird auch zu einer deutlichen Strukturbereinigung kommen. Gewisse Unternehmen gingen schon nicht allzu stark in die Pandemie und wurden nun durch die Corona-Massnahmen am Leben gehalten. Die Statistik zeigt ja derzeit weniger Konkurse als vor der Pandemie; ganz anders als bei der Finanzkrise, wo sie sofort angestiegen waren.

Der Strukturwandel wird Gelegenheiten mit sich bringen, aber auch viele hart treffen. Teile des Tourismus aus Asien oder des auf Geschäftsreisen basierenden Städtetourismus etwa werden wohl nicht so schnell zurückkommen.

Könnte das Auslaufen der Kurzarbeitsgeld-Regelung noch für eine Kündigungswelle sorgen?

Eine gewisse Erhöhung der Kündigungen wird es sicher geben. An eine Explosion bei der Arbeitslosigkeit glaube ich allerdings nicht. Die zu erwartende sehr gute Wirtschaftslage fördert die Beschäftigungsentwicklung. 

Im Rückblick erging es der Schweizer Wirtschaft nicht so schlecht, wie es im März 2020 befürchtet worden war. Erstaunt Sie dies?

In der Finanzkrise 2008 dachte man zunächst auch, die Schweiz mit ihrem international ausgerichteten Finanzplatz werde speziell stark getroffen. Im Vergleich zu anderen Ländern wurde sie aber eher weniger belastet. Die Schweizer Institutionen, die Wirtschaftspolitik und die Wirtschaft sind sehr widerstandsfähig aufgestellt. Und dies 2008 und 2020 bei völlig unterschiedlichen Schocks.

Woran liegt das? Sind es die Hilfskredite, die Struktur der Wirtschaft, die Rolle des Staates?

Es ist eine Mischung von allem. Aber der politisch gesetzte Rahmen hat sich in der Schweiz in jüngerer Vergangenheit sicher spürbar verbessert. In den 90er Jahren erlebte die Schweiz eine Wirtschaftskrise, die andere Länder so nicht hatten.

«Ja, es wird sehr schwierig werden, zu Reformen zu kommen.»

Darauf folgten wichtige Reformen: Neugestaltung der Arbeitslosenversicherung, bilaterale Verträge, verschärfte Wettbewerbsgesetzgebung, Schuldenbremse. Dadurch wurde der Rahmen resilienter. Im vergangenen Frühling war es dann zusätzlich die schnell und unbürokratisch organisierte Liquiditätshilfe, die extrem gut wirkte. Man setzte beim richtigen Problem an.

Bei den Hilfsmassnahmen gab es aber auch viel Kritik: Sie seien zu langsam, zu spärlich, zu kompliziert. 

Die Liquiditätshilfe in der Schweiz wurde wohl so schnell organisiert wie in kaum einem anderen Land. Und dies über staatliche Bürgschaftsgenossenschaften mit sehr 'sanften' Krediten. Ohne Unterstützung bei den Kapitalkosten durch Kredite wären viele an sich solvente Unternehmen wohl in den Konkurs gegangen. Das Härtefallprogramm, das jetzt läuft, ist viel bürokratischer.

Aber dort wird eben nicht Geld geliehen, sondern verteilt. Deswegen kommt es in der Praxis auch zu verständlicher Kritik. Aber es war gut, dass man vor einem Jahr nicht mit diesem komplizierteren Modell angefangen hat.

Welche grossen Schwächen in der Schweizer Wirtschaft hat die Krise offengelegt?

Man hätte auf eine Pandemie besser vorbereitet sein können – aber dies ist jetzt auch einfach zu sagen. Nach der Krise ist eine Aufarbeitung nötig. Dies ist sehr wichtig. Über die Rolle des Staates bei Hilfsprogrammen wird man sicherlich diskutieren müssen. Was auch klar ist: Der Übergang von der 'ausserordentlichen' zur 'besonderen' Lage im Juni 2020 brachte viel Sand ins Getriebe. Dadurch, dass die Kantone stärker mitredeten, verlor man bei Beginn der zweiten Welle im September viel Zeit.

Plädieren Sie für eine Reform des Föderalismus?

Ich würde sicher nicht so weit gehen, den Föderalismus zu 'reformieren', der ja grundsätzlich funktioniert und effizienzsteigernd wirkt. Aber das Zusammenspiel von der ausserordentlichen und der besonderen Lage in einer Krisensituation muss meines Erachtens überprüft werden. Ein solche Krise ist in Zukunft ja durchaus wieder denkbar.

Wenn man ans menschliche Verhalten denkt: Wollen die Leute, und damit die Politik, die Krise nicht bald einfach hinter sich lassen? Dies würde dazu führen, dass der Reformwille schnell verpufft.

Ja, es wird sehr schwierig werden, zu Reformen zu kommen. Bei der Finanzkrise allerdings – als ein klarer Reformbedarf bestand – wurden die ersten Jahre nach der Krise  genutzt, um die 'Too-Big-to-Fail'- und neue Kapital- und Liquiditätsregelungen für Banken einzuführen. In der Parallele ginge es heute nun darum, wie man in einer Pandemie widerstandfähiger wird.

Wenn man über die Pandemie hinausblickt: Risiken für die Schweizer Wirtschaft im grösseren Zusammenhang sind die Klimadebatte oder auch die Rolle Chinas. Geschäfte mit China stehen jetzt mehr in der Kritik. Gefährdet dies die Geschäftsausrichtung vieler Unternehmen?

Klima ist ein Riesenthema. Eine dadurch deutlich veränderte Wirtschaft wird Kosten und Opportunitäten mit sich bringen. Aber dies wirkt kurzfristig nicht disruptiv, es wird keinen überraschenden Schock geben, sondern das ist ein längerfristiger, schon bekannter Prozess. 

«Europa wird noch jahrzehntelang für die Schweizer Exporte massiv wichtiger bleiben als China und andere Schwellenländer zusammen.»

Von China wiederum sind gewisse Schweizer Unternehmen sicher abhängig, aber die Schweizer Wirtschaftsbeziehungen sind gut diversifiziert. Das grössere Risiko als China sind die Beziehungen zu Europa. Die Europa-Politik macht mir mehr Sorgen.

Sie sorgen sich also wegen eines Abbruchs der Gespräche um das Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU?

Ja. Eine schockartige Verschlechterung bei Europa, etwa im Zusammenhang mit dem Rahmenabkommen, hätte mehr negatives Potential als eine Verschlechterung der Beziehungen mit China. Würde die EU einen Teil der bilateralen Abkommen künden, wäre dies wirklich problematisch. Da steht in den nächsten fünf bis zehn Jahren einiges auf dem Spiel.

Eine Rückkehr zu einem erweiterten Freihandelsabkommen von 1972 etwa würde bedeutende Handelshemmnisse aufbauen und in der Exportwirtschaft wohl  einen enormen, unnötigen Strukturwandel auslösen.

Die Kritik am Rahmenabkommen ist allerdings relativ breit verankert, auch in Teilen der Wirtschaft. Verstehen Sie, dass dessen vorliegende Form abgelehnt oder kritisiert wird?

Natürlich verstehe ich die Bedenken, aber in einem Abkommen gibt es immer Dinge, die einem nicht gefallen. Aus meiner Sicht gibt das Rahmenabkommen der Schweiz die entscheidende Möglichkeit bei einzelnen Anpassungen 'Nein' zu sagen, ohne dass dies zu exorbitanten Gegenreaktionen führen darf; und dieses Neinsagen-Können ist für mich der Kern der Souveränität. 

Ich habe oft den Eindruck, dass die Gegner die wirtschaftlichen Kosten einer deutlichen Verschlechterung der Beziehungen mit der EU unterschätzen. Europa wird noch jahrzehntelang für die Schweizer Exporte massiv wichtiger bleiben als China und andere Schwellenländer zusammen.

Sie haben bereits die Finanzkrise von 2008 angesprochen. Wir haben vor ein paar Wochen den Fall Credit Suisse mit grossen Abschreibungen als Folge des Kollapses eines Hedgefonds gesehen. Ist die Gefahr einer Finanzkrise wirklich kleiner geworden?

Wären die Banken mit den Kapitalausstattungen von 2008 in die Pandemie gegangen, hätten wir vor einem Jahr wohl besorgt über eine drohende Finanzkrise gesprochen. Die Coronapandemie hat den Benefit der stärkeren Kapitalisierung gezeigt. Die Situation bei der Credit Suisse  stellt nach heutigem Wissen kein Finanzstabilitätsrisiko dar. Es ist bis jetzt ein Problem des Unternehmens selbst.

«Bedrohlich für das Finanzsystem wird ein Crash dann, wenn Banken mit starkem Leverage involviert sind.»

Es gibt aber Übertreibungen an den Finanzmärkten: Bewertungen sind sehr hoch, und einzelne Aktien oder Kryptowährungen bewegen sich wie wild. Getrieben von Social Media. 

Die Frage ist, ob jene, die an den Finanzmärkten Geld verlieren oder zu verlieren drohen, systemrelevant sind. Bedrohlich für das Finanzsystem wird ein Crash dann, wenn Banken mit starkem Leverage involviert sind. Die hohe Bewertung an den Märkten wiederum hat natürlich mit der lockeren Geldpolitik zu tun, die Ökonomen wie ich mit Sorge sehen. Und die Expansion der Geldmenge hat sich in der aktuellen Krise gar noch erhöht.

Für die Finanzmärkte sind Inflationsängste derzeit ein grosses Thema. Wie beurteilen sie dies aus Ökonomen-Sicht?

In der Anfangsphase der Pandemie sah ich zunächst drei sehr unterschiedliche mögliche Szenarien: Gesunde Erholung, Depression und Überhitzung. Zu Beginn war die Überhitzung das unwahrscheinlichste Szenario. Jetzt ist, dank der Impfung, die Depression das unwahrscheinlichste Szenario. Für das wahrscheinlichste Szenario halte ich nach wie vor die gesunde Erholung, aber das Überhitzungsszenario hat deutlich an Wahrscheinlichkeit gewonnen. Deutlich.

Wird es Preissteigerungen geben?

Diese wird es sicher geben. Aber Inflation würde ja ansteigende Inflationserwartungen und damit eine Preis-Lohn-Spirale bedeuten. Dies halte ich nicht für das Hauptszenario, aber die Wahrscheinlichkeit ist wie betont grösser geworden.

Wie würde die Schweiz bei einer höheren Inflation dastehen?

Per se einmal gleich wie für andere vergleichbare Länder. Von der Inflation als solches haben nicht mehr viele Angst. Die letzte wirklich starke Inflation hatten wir in den 1970er Jahren, so dass die meisten sich kaum mehr an die Kosten eines solchen Ereignisses erinnern können.

Angst haben die Leute aber vor der absehbaren Reaktion der Zentralbanken. Diese konnten ihre lockere Geldpolitik der letzten Jahre immer mit der Preisstabilität rechtfertigen. Wenn es nun aber eine Inflation gibt, müssen die Zentralbanken die Zügel anziehen. Dies würde an den Finanzmärkten praktisch alle Anlageklassen treffen.

Eine rasche geldpolitische Wende scheint aber doch immer noch sehr wenig denkbar.

Wenn es wirklich eine länger ansteigende Inflation mit Lohn-Preis-Spiralen gibt, dann schon. Die Euphorie wegen der guten Nachrichten bezüglich der Pandemie und die in der Pandemie unfreiwillig entstandenen hohen Sparquoten können zu einem starken Nachfrageschub führen, dem das Angebot je nachdem nicht genügend rasch folgen kann. Dazu kommt das sehr billige Geld.

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Man kann sich günstig verschulden. Dann die USA, die auf ihre hohe Staatverschuldung und in einer schon wieder dynamischen Wirtschaft zwei gigantische Fiskalpakete packen, die zu hohen Ausgaben führen werden. Dazu kommt noch die Befürchtung, dass die Welt als Folge der Pandemie etwas protektionistischer werden könnte.

Und schliesslich wirkt im Prinzip auch die demographische Entwicklung der nächsten Jahre nicht mehr so deflatorisch wie bisher. Wir hatten 30 Jahre keine Inflation, aber angesichts dieser eindrücklichen Liste von potentiellen Inflationstreibern ist man bezüglich zukünftiger Finanzstabilität vielleicht etwas zu entspannt.

Was wünschen Sie sich von den Notenbanken?

In den Jahren vor der Pandemie wurde die Chance der Normalisierung verpasst, für die Schweiz relevant vor allem von der Europäischen Zentralbank (EZB). Sie müsste meines Erachtens jetzt rasch schrittweise restriktiver werden, das heisst moderate Zinserhöhungen und den Abbau ihrer Bilanz einleiten.

Die Schweizerische Nationalbank (SNB) muss hoffen, dass die EZB sich bald in diese Richtung bewegt erhöht, weil ihr sonst wegen der drohenden Franken-Aufwertung die Hände gebunden sind. Bei einer rasch ansteigenden Inflation müsste die SNB aber gemäss ihrem Mandat ohnehin schnell die Richtung ändern und restriktiver werden.

Dieser Artikel erschien zuerst bei Cash.ch unter dem Titel «Aymo Brunetti: «Die Wahrscheinlichkeit einer Überhitzung ist deutlich gestiegen»».

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