Wie steht es weltweit um die Ernährungssysteme?

Man weiss, dass unsere Ernährungssysteme weder ökologisch vertretbar noch gesund oder gerecht sind. Nehmen wir die Klimaerwärmung: Geschätzte 20 bis 40 Prozent der Treibhausgasemissionen gehen auf die Produktion von Nahrungsmitteln entlang der gesamten Wertschöpfungskette zurück. Nur schon deshalb müssen wir die Ernährungssysteme stark umgestalten. Bei solchen Veränderungsprozessen gibt es aber immer Gewinner und Verlierer. Unsere zentrale Forschungsfrage lautet daher, wie man den nötigen Wandel bewerkstelligen kann, ohne dass das auf Kosten jener geht, die ohnehin am schwächsten sind. Letztlich drehen sich unsere Untersuchungen um die Gerechtigkeit in den Ernährungssystemen.

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Wie ist die Entwicklung?

Leider haben sich die Probleme durch die Pandemie sehr stark akzentuiert und dafür gesorgt, dass die Ernährungssicherheit in vielen Ländern zurückgegangen ist. Es sind weltweit etwa 130 Millionen Menschen mehr, die unter Ernährungsunsicherheit leiden.

Die Kritische

Name: Theresa Tribaldos
Funktion: Ernährungssystemforscherin, Universität Bern, Centre for Development and Environment
Familie: verheiratet
Ausbildung: Geografie- und Geopolitikstudium an den Universitäten Zürich und King’s College London, Doktorat an der ETH Zürich

Das Forschungsziel Das wichtigste Ziel eines Ernährungssystems sollte es sein, die Bevölkerung ausreichend mit gesunden Nahrungsmitteln zu versorgen. Dazu gehört, was und wie produziert wird, wie die Lebensmittel verarbeitet, vertrieben und gehandelt werden und wie die Machtverhältnisse entlang der Wertschöpfungsketten sind.

 


 

Wo liegen die grössten Probleme?

Neben der gestiegenen Ernährungsunsicherheit sind die grossen Mengen an Rohstoffen und Waren, billig in riesigen Monokulturen produziert, sicher eines der grössten Probleme.

Welche Produkte meinen Sie?

Was am meisten produziert und international gehandelt wird, sind Sojabohnen. Hier sind Brasilien und die USA die grössten Produktionsländer und der grösste Abnehmer ist China. Bei diesen grossen Warenflüssen ist in der Regel nicht die ganze Welt involviert, sondern nur einige wenige Länder.

Die Folgen?

Zunächst mal verursachen diese Monokulturen grosse Umweltschäden und sind massgeblich für den Verlust von Biodiversität verantwortlich. Sie konkurrenzieren aber in ärmeren Ländern auch lokale, teilweise nachhaltigere Märkte und schaffen so Abhängigkeiten. Wir sehen das jetzt auch bei den Weizenexporten aus der Ukraine. Viele Länder haben sich von den billigen Weizenimporten abhängig gemacht, welche einheimische Nahrungsmittel verdrängt haben. Wenn bei solchen Abhängigkeiten die Lieferketten gestört werden, ist sofort die Ernährungssicherheit in Gefahr. Das ist das eine grosse Problem, das sich in den letzten Jahren verschärft hat.

Daran hat auch das weltweit gestiegene Bewusstsein für mehr Nachhaltigkeit nichts geändert?

Nein, im Gegenteil, in Brasilien werden immer noch grosse Waldflächen gerodet für den Anbau von Monokulturen. Auch weltweit geht der Trend weiter in Richtung Monokulturen. Das gilt übrigens auch in der Schweiz. Natürlich haben wir nicht so riesige Flächen wie beispielsweise in den USA oder Brasilien. Aber auch wir produzieren teilweise sehr intensiv in Monokulturen.

Zum globalen Ernährungssystem gehört nicht nur die Produktion von Agrarerzeugnissen.

Genau. Bevor wir die Erzeugnisse essen können, sind ja noch eine Reihe von Zwischenschritten notwendig wie beispielsweise der Transport, die Verarbeitung, Handel, Logistik, Detailhandel. Diese Zwischenschritte haben eine ähnliche Entwicklung genommen wie der Anbau. Sie sind standardisiert, technologiebasiert und auf die Produktion von billigen Nahrungsmitteln ausgerichtet.

Sollten wir nicht dankbar sein für günstige Nahrungsmittel?

Wir zahlen den Preis dafür an anderer Stelle: für die negativen Umweltauswirkungen, die wir alle zu spüren bekommen, und auch hinsichtlich unserer Gesundheit. Die hochverarbeiteten Lebensmittel tragen zu Krankheiten bei wie Diabetes, zu Übergewicht oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Das sind hohe Kosten im Gesundheitswesen, die wir zu tragen haben. Bei Ernährungsunsicherheit geht es ja nicht nur um Menschen oder Gesellschaften, die zu wenig zu essen haben. Dazu wird auch Fehlernährung gerechnet. Unterernährung, Übergewicht und Nährstoffmangel sind auch alles Konsequenzen des globalen Ernährungssystems. Und so kommen wir weltweit auf zwei bis drei Milliarden Menschen, die von Mangelernährung betroffen sind. Das oberste Ziel eines Ernährungssystems sollte es doch sein, die Bevölkerung gesund zu ernähren – und davon sind wir weit entfernt.

Was schlagen Sie vor?

Das gesamte Ernährungssystem muss umgebaut werden. Und da reicht es nicht, nur die Agrarproduktion umzustellen. Wir brauchen dann auch einen verarbeitenden Sektor, der diese Produkte aufnehmen kann, sowie Distributionskanäle, die solche Mengen aufnehmen können. Und natürlich muss der Konsum sich anpassen.

Wir können den USA oder Brasilien nicht vorschreiben, wie sie Agrarprodukte zu produzieren haben.

Nein, aber wir müssen sie ja nicht importieren. In Handelsbeschränkungen von schädlichen Produkten liegt der entscheidende Hebel. Den freien Handel halte ich grundsätzlich für eine wichtige Errungenschaft, aber wir dürfen Lebensmittel nicht mit normalen Industrieprodukten gleichsetzen. Die Auswirkungen auf Klima und Gesundheit sind einfach zu massiv.

Es gibt immer mehr Menschen, die wir in Zukunft ernähren müssen.

Das stimmt, aber weltweit produzieren wir heute bereits knapp 3000 Kalorien pro Kopf weltweit. Als durchschnittliche Empfehlung gelten 2300 Kalorien. Wir produzieren heute schon viel mehr, als wir brauchen. Es ist nicht eine Frage der Menge, sondern eine Frage der Verteilung, des Zugangs und der Gerechtigkeit. Das werden wir auch nicht ändern, wenn wir einfach mehr produzieren.

Wie kommen wir da hin?

Man muss parallel an verschiedenen Ebenen ansetzen. Es klingt dirigistisch, aber nach meiner Überzeugung müsste der Staat hier mehr Verantwortung übernehmen. Bisher haben wir lediglich an die Konsumenten appelliert. Sei ein guter Konsument, kaufe nachhaltige Produkte und weniger Fleisch. Hier sehen wir, dass das nicht ausreichend funktioniert. Kein Wunder, als einzelne Person sehen wir keinen Effekt auf das Gesamtsystem.

Sie wollen Verbote?

Es kann sicherlich zum grossen Teil mit einer Veränderung der Anreizsysteme funktionieren. In Mexiko zeigt sich, dass eine Steuer auf zuckerhaltige Getränke positive Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung hatte. Und wir brauchen auch Verbote für besonders ungesunde und schädliche Produkte, ja.

Was sollte verboten werden?

An erster Stelle ist hier Soja zu nennen, aber auch andere Futtermittel wie Mais, die in riesigen Monokulturen angebaut werden mit enormen Umweltauswirkungen. In erster Linie als Futtermittel für die Fleischproduktion. Das ist sehr ineffizient. Man bräuchte viel weniger Flächen, um pflanzliche Produkte anzubauen, die von Menschen direkt verspeist werden können. Stattdessen bauen wir Pflanzen wie Soja an, transportieren sie um die ganze Welt, um sie an Tiere zu verfüttern, die in riesigen Mastanlagen gehalten werden, damit Menschen Fleisch in ungesunden Mengen essen können. Das Ganze ist schlecht für die Umwelt, die Tiere und den Menschen. Das ist doch völlig absurd.

Also den Fleischkonsum verbieten?

Nein, sicher nicht, aber auf ein nachhaltiges Mass reduzieren. Da schlummert ein riesiges Potenzial. Wenn wir wegkommen von dieser Monokultur für Futtermittel und die Fleischproduktion auf ein nachhaltiges Level senken, werden riesige Flächen frei, um sie der Natur zurückzugeben und nachhaltiger pflanzliche Produkte für den Verzehr von Menschen zu produzieren.

Weitere problematische Produkte?

Zucker und Fruktose-Sirup sicherlich. Neben positiven Eigenschaften wie beispielsweise der Konservierung von Lebensmitteln gibt es enorme gesundheitliche Folgen, insbesondere durch den Konsum hochverarbeiteter Produkte. Das könnte man besser regulieren.

Was sollte sich noch ändern?

Das internationale Handelsrecht/WTO beeinflusst extrem, wie und was gehandelt wird. Hier sollten die Staaten sich dafür einsetzen, dass nachhaltige Produkte gefördert werden im Handel und dass Produkte mit negativen sozialen Auswirkungen oder umweltschädlichen Folgen höhere Hürden erhalten. Im Moment ist es umgekehrt. Wenn Sie Bioprodukte kaufen, zahlen sie mehr als für billig und schlecht produzierte Waren. Das muss sich ändern. Nachhaltige Produkte müssten günstiger sein, da sie für die Gesellschaft viele Vorteile bringen. Auch aus einer Gerechtigkeitsperspektive ist es stossend, dass ärmere Menschen sich nur die schlechteren, ungesunden Nahrungsmittel leisten können.

Wie sieht das die Schweizer Politik?

In der Schweiz ist das in den letzten Jahren intensiv diskutiert worden und es gab ja auch einige Initiativen dazu. Aber der grosse Wurf ist noch nicht gelungen. Hier gilt nach wie vor der liberale Gedanke. Essen ist Privatsache, dort hat sich der Staat weitgehend rauszuhalten. Auf den ersten Blick klingt das gut. Aber es ist ein Trugschluss, wenn wir uns ehrlich anschauen, welche gesundheitlichen Folgekosten für die Gesellschaft und gravierende Auswirkungen auf die Umwelt dadurch entstehen.

Wenn Sie freie Hand hätten, welche fünf Initiativen würden Sie lancieren?

Erstens würde ich degradierte Landschaften – dazu zähle ich Flächen, die mit grossen Monokulturen bearbeitet wurden – umwandeln in diverse Systeme. Damit wir Platz bekommen für eine nachhaltige Ernährungsproduktion und für Ökosysteme mit einer reichen Biodiversität, sodass wir eine Kohabitation von Mensch und Umwelt umsetzen können.

Zweitens würde ich im Handelsrecht Änderungen durchsetzen, damit Länder sich schützen können vor ungesunden und für Umwelt und Mensch schädlichen Nahrungsmitteln. Drittens würde ich die Macht von grossen Nahrungsmittelherstellern einschränken. Wirtschaftliche Unternehmen müssten dafür sorgen, dass ihr Wirken für die Gesellschaft einen Nutzen hat. Viertens würde es uns allen besser gehen, wenn wir weniger standardisierte Produkte hätten. Ich muss nicht überall auf der Welt denselben Apfel essen. Und als letzten Punkt würde ich mir wünschen, dass mehr Bildung zu Ernährungsfragen umgesetzt wird, damit die Konsumentinnen und Konsumenten besser informiert sind darüber, was sie wirklich zu sich nehmen.