Liebe Leserin, lieber Leser

Ein lustlos wieder gewählter Tony Blair in England, eine politische Dauerkrise in Italien, ewiges Malaise in Frankreich und nun angekündigte Neuwahlen in Deutschland – das Europa der Nationen bewegt sich auf politisch labilem Grund. Hohe Sockelarbeitslosigkeit und erlahmender Reformeifer vermengen sich zu einer Art der Stagnation, die den Fundus politischer und gesellschaftlicher Gemeinsamkeiten zunehmend verbraucht und das Wahlvolk in seiner Politikverdrossenheit bestärkt.

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Der Autoritätszerfall der politischen Parteien, verbunden mit einem ebensolchen beim Führungspersonal der Wirtschaft, führt zu einem Erstarken der Gewerkschaften, jener gesellschaftlichen Kraft also, die nicht Reform, sondern Besitzstandswahrung im Sinn hat. An den roten Fahnenträgern der gewerkschaftlichen Parteibasis ist in Deutschland das Experiment Rot-Grün und Reformkanzler Gerhard Schröder gescheitert. 1998 ist er als Einzelfigur angetreten, und die Wähler gaben ihm persönlich die Stimme, nicht der Partei, nicht dem grünen Koalitionspartner, sondern Gerhard Schröder, weil sie hofften, dass er den kohlschen Reformstau überwinden würde. Schröder wusste, dass innerhalb der SPD traditionell antikapitalistisch-klassenkämpferische Energien schlummern. Die hoffte er in einer ersten Phase durch einen Schmusekurs gegenüber den Arbeitnehmerorganisationen zu neutralisieren – und setzte sich dadurch dem Risiko aus, sich das wirtschaftliche Establishment zum Gegner zu machen.

Die Wirtschaft aber brauchte er, um seine Reformvorhaben durchzubringen. Schröder korrigierte seinen politischen Kurs und erfüllte zumindest einige Forderungen der Wirtschaftsverbände. Dass das absehbare Aus für seine Reformpolitik ausgerechnet nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen eingeläutet wird, ist tragisch und folgerichtig zugleich. In diesem Bundesland, ehemals der Nukleus von Deutschlands Schwerindustrie, regierte die SPD lange 39 Jahre, zum Teil mit absoluter Mehrheit. Und doch manifestiert sich gerade hier der fast unauflösliche Dualismus linker Parteien und der SPD im Besonderen: Der auf soziale Sicherheit pochende Arbeiter findet keine gemeinsame Sprache mehr mit dem jüngeren, umweltbewegten Akademiker. Dies zeigt die Grenzen sozialdemokratischer Reformfähigkeit – dass sich der die klassische Klientel vertretende Oskar Lafontaine nun ausserhalb der Partei links aussen festbeissen will, ist in diesem Sinne konsequent.

In der Schweiz sind Partei und Gewerkschaften weniger stark miteinander verbandelt. Die Auseinandersetzung findet mehr zwischen Gewerkschaftsspitzen und Arbeitgebern statt – hier zeigen sich ähnlich ungesunde Tendenzen wie in Deutschland. Es besteht eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen der Leistungsbilanz und den Ansprüchen schweizerischer Arbeitnehmervertreter: Organisierungsgrad und jährliche Arbeitszeiten sind rückläufig; eine Gewerkschaft wie die Unia steckt eine Verhandlungsschlappe nach der anderen ein und markiert dennoch den starken Mann: «Wer uns ausschliesst», sagt etwa Unia-Co-Präsident Vasco Pedrina gegenüber der «SonntagsZeitung», «muss mit Unruhe rechnen.»
Aus diesen Worten atmet nicht der Geist der Reform, sondern jener der Besitzstandswahrung und Konfrontation. Wer s0lches sagt, hat die Sozialpartnerschaft aufgegeben.