Für Nobel-Biocare-Chefin Heliane Canepa war es eine schmerzliche Erfahrung: Der renommierte Zahnchirurg Per-Olof Oestman leistete seinem ehemaligen Doktorvater Lars Sennerby und dessen Kollegen von der schwedischen Universität Göteborg beim Angriff auf ihre Firma vorbehaltlos Sukkurs. Zumal Oestman jüngst noch auf der Payroll des Unternehmens figuriert hatte. Die beiden Uni-Professoren hatten Anfang Dezember ein neues Zahnimplantat von Nobel Biocare heftig attackiert, in das der Medtech-Konzern grosse Hoffnungen gesetzt hatte. Die Koryphäen behaupteten, dass Nobel Direct, einmal eingesetzt, im Kiefer Knochenschwund verursache. Es sei, so forderten die schwedischen Zahnmediziner, sofort vom Markt zurückzuziehen. Bei rund einem Drittel von 300 untersuchten Implantaten habe sich der Knochen um mehr als zwei Millimeter zurückgebildet – ein unakzeptabler Schaden.

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Die Hiobsbotschaft aus dem hohen Norden ist das Letzte, was Canepa brauchen kann. Nobel Biocare war lange Jahre keine Ertragsperle gewesen, Umsatz und Profitabilität liessen zu wünschen übrig. Dem Produktportfolio fehlte eine klare Richtung. Canepa war es gelungen, den schwedisch-schweizerischen Medtech-Konzern wieder auf Kurs zu bringen – mit Wachstumsraten von über 20 Prozent und einem einmaligen Innovationsstakkato. Die Firma stand kurz davor, in den Olymp der Schweizer Blue Chips aufgenommen zu werden.

Und jetzt der Skandal. Nobel Biocare konterte umgehend, stand doch ihr guter Ruf auf dem Spiel. Nach Einsicht in die professoralen Unterlagen seien genau 27 Fälle genügend dokumentiert. Im Übrigen sei seit der Einführung von Nobel Direct vor eineinhalb Jahren nirgends sonst ein solch gravierendes Problem beobachtet worden – bei immerhin weltweit 60 000 implantierten Zahnprothesen dieses Typs.

Die Anleger zeigten sich Canepas Argumenten nicht sonderlich gewogen. Die Aktie stürzte vom Höchst im Dezember um rund zehn Prozent ab. «Die Story aus Schweden wird ein halbes Jahr auf dem Titel lasten», sagt Sibylle Bischofberger Frick, Analystin der Bank Leu. Sie möchte den Fall indessen nicht überbewerten, das Produkt mache nur zwei Prozent des Nobel-Umsatzes aus: «Ich erwarte derzeit für die Firma keine schwer wiegenden Probleme.»

Zoff ist nichts Neues und auch nichts Singuläres in der Branche. Immer wieder mal gerät eine Medtech-Firma in die Schlagzeilen. Ypsomed musste 2005 ihre Pens für die Diabetes-Therapie aus Japan zurückziehen, die Qualitätskontrolle hatte versagt. Pens sind Injektionssysteme zur mehrmaligen dosierten Applikation von Medikamenten durch die Patienten selbst. Zudem klagte der dänische Pharmakonzern Novo Nordisk die Burgdorfer Firma in den USA wegen Patentverletzung an. Der US-Konzern Guidant Corp. musste im vergangenen Juni fast 200 000 Herzschrittmacher und rund 90 000 Implantate gegen Herzflattern wegen möglicher Funktionsstörungen vom Markt nehmen. Und Synthes, globaler Platzhirsch in der Traumatologie (Knochenbrüche), ist in den USA ebenfalls in einen Patentstreit verwickelt.

«Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert», diese frivole Maxime aus zwielichtigem Milieu gilt nicht für die Medtech-Industrie. Ärzte und Patienten reagieren giftig, wenn die medizinischen Produkte ihren Anforderungen an Zuverlässigkeit und Qualität nicht genügen. Dies musste die Orthopädiefirma Centerpulse (ehemals Sulzer Medica) vor Jahren zur Kenntnis nehmen, als verschmutzte Hüftgelenke ihre Qualitätskontrolle unentdeckt passierten. In einem Vergleich mit US-Sammelklägern zahlte sie eine Milliarde Dollar Schadenersatz, verlor ihre Selbständigkeit und wurde vom US-Konzern Zimmer geschluckt.

Trotz Skandalen und Skandälchen – die Medtech-Branche präsentiert sich in blendender Verfassung. Rund 190 Milliarden Dollar setzt die gesamte Industrie jährlich um. «Der Markt verspricht ein Wachstum von 10 bis 15 Prozent über die nächsten 20 bis 30 Jahre», sagt Karl J. Deutsch, Vice President der internationalen Beratungsfirma A.T. Kearney. 53 Prozent dieses Kuchens sind so genannte Verbrauchsmaterialen (medical supply) zur Wundbehandlung, Spritzen, Verbände und anderer Spitalbedarf. Die Medizinaltechnologie (medical device) im engeren Sinn ist gemäss einer Studie der Genfer Privatbank Lombard Odier Darier Hentsch (LODH) 86 Milliarden Dollar schwer. In den neunziger Jahren wuchs die Industrie mit 23 Prozent jährlich, gegenwärtig legt sie zwischen 5 und 20 Prozent zu – je nach Sektor. Die Branche garantiert exzellente Profite. Im Durchschnitt der letzten fünf Jahre betrug die Ebit-Marge satte 18 Prozent. Und Zyklen kennt die Branche kaum. «Der Bereich Gesundheit ist weder von der Konsumentenstimmung noch von der Konjunkturentwicklung abhängig», sagt A.T.-Kearney-Berater Deutsch. Getrieben wird der Markt von den grossen gesellschaftlichen Trends wie der Überalterung, der zunehmenden Anspruchsmentalität an die medizinische Versorgung, der markanten Zunahme von Zivilisationskrankheiten wie Diabetes oder Bluthochdruck, der ungesunden Ernährung und der Fettleibigkeit mit all ihren Folgeerscheinungen.

Ein blühendes Geschäft. Rund 40 Prozent des 86-Milliarden-Kuchens wird von der Herz- und Gefässchirurgie absorbiert, deren Hauptprodukte Herzschrittmacher, Defibrillatoren oder Stents zur Gefässerweiterung sind. Weitere 20 Prozent des Umsatzes belegt die Orthopädie (Knochenchirurgie). Den ganzen Rest teilen sich die Injektionssysteme, die Zahnreparatur, die Hörgeräte-Industrie, die Labortechnik und die Diagnostik. Fünf Prozent des Volumens fallen auf einige andere kleinere Bereiche.

Die grossen Schweizer Medtech-Firmen sind in vier dieser Segmente in führenden Positionen aktiv, nämlich in der Orthopädie (Synthes), der Zahnprothetik (Nobel Biocare und Straumann), der Hörgeräte-Industrie (Phonak) und bei den Injektionssystemen (Ypsomed):

– Mit orthopädischen Produkten – künstliche Gelenke, Rückenwirbel, Nägel, Schrauben und Platten – werden weltweit 17 Milliarden Dollar umgesetzt. Das Wachstum beträgt 10 bis 20 Prozent pro Jahr, und die sechs grössten Firmen, darunter Synthes, beherrschen 85 bis 90 Prozent des Marktes. Ein Wachstumstreiber sind die beweglichen Rückenwirbel aus Titan. Synthes hat mit ProDisc eines der besten Produkte auf dem Markt. In diesem Bereich ist sie nach Medtronic die Nummer zwei, im Traumamarkt belegt sie den ersten Platz.

– Das globale Geschäftsvolumen in der Dentalmedizin beläuft sich auf 3,7 Milliarden Dollar. Das Segment wächst mit 15 Prozent pro Jahr. Neben der reinen Wiederherstellungschirurgie nimmt die Schönheitsmedizin einen wachsenden Stellenwert ein. Insbesondere beim Zahnersatz besteht ein riesiger Nachholbedarf. Fünf Firmen dominieren 85 Prozent des Weltmarkts. Nobel Biocare ist mit 33 Prozent Marktanteil vor Straumann (26 Prozent) die Nummer eins.

– Der Hörgerätemarkt setzt jährlich rund drei Milliarden Franken um und weist gegenüber den anderen Segmenten das geringste Wachstum auf. Der Markt legt lediglich um drei bis sechs Prozent pro Jahr zu. Markttrends sind Miniaturisierung und Digitalisierung. In beiden Technologien hat Phonak die Nase vorn. Die Top 6 beherrschen einen Marktanteil von 94 Prozent; Phonak belegt nach Siemens und William Demant den dritten Rang weltweit.

– Mit Injektionssystemen werden weltweit zwei Milliarden Dollar umgesetzt. Der Markt wächst um 10 bis 20 Prozent pro Jahr. Die Zahl der Medikamente, die mit Pens appliziert werden müssen (vorab Biotech-Produkte), steigt tendenziell an. Ein Nachlassen der Umsatzdynamik zeichnet sich deshalb nicht ab. Ypsomed ist der führende unabhängige Anbieter von Pens und Pen-Systemen. Sechs Firmen, darunter grosse Pharmakonzerne wie Novo Nordisk, Eli Lilly oder Roche, beherrschen 84 Prozent des Markts.

«In ihren Bereichen sind die grossen Schweizer Medtech-Firmen hervorragend positioniert», sagt Karl J. Deutsch von A.T. Kearney. Die Beratungsfirma hat den internationalen Medtech-Markt der letzten fünf Jahre unter die Lupe genommen. Sie untersuchte alle bedeutenden Schweizer Firmen – mit Ausnahme des Laborbereichs (Tecan und Unilabs) und der Diagnostik (Roche) – auf die Umsatz- und Gewinnentwicklung hin. Resultat: Alle Schweizer Firmen sind so genannte Value Grower. Sie sind im betrachteten Zeitraum deutlich über dem Branchendurchschnitt gewachsen. Lediglich drei ausländische Konkurrenten können mit den Schweizern mithalten: Zimmer, Dentsply und Biomet.

Die Schweizer Medtech-Industrie ist übers Ganze gesehen nicht eben transparent. Viele Firmen sind wie Ypsomed, Phonak und Straumann unter patronalem Tutorat, der Freefloat ist bei diesen Aktien oft nicht berauschend gross. Kommt dazu: Die Branche ist hierzulande extrem fragmentiert; Klein- und Kleinstunternehmen beherrschen die Szene, wie jüngst der Swiss Medtech Report berichtete. Danach existieren quer durchs Land 500 Firmen, die 40 000 Arbeitskräfte beschäftigen. Sie generieren rund fünf Milliarden Dollar Umsatz, wovon über 90 Prozent in den Export gehen. Die Branche wächst mit sieben Prozent pro Jahr und investiert eine halbe Milliarde Dollar in die Forschung und Entwicklung – eine enorme Leistung.

Und die ist nicht umsonst. Die Schweizer Medtech-Firmen können sich im internationalen Wettbewerb mit den grossen Konzernen wie Johnson & Johnson, Medtronic, Boston Scientific oder Zimmer nur halten, wenn sie eine hohe Innovationsdichte aufweisen und in schneller Folge neue Produkte auf den Markt werfen. «In diesem Markt», sagt Leu-Analystin Bischofberger Frick, «ist Wachstum nur durch Innovation zu erreichen.»

Nobel Biocare hat in dieser Hinsicht ein enormes Tempo vorgelegt, Heliane Canepa hat nicht nur das Sortiment gestrafft, sondern auch in schneller Folge neue Produkte lanciert. «Nobel ist beim Marketing agiler als Straumann», sagt Samuel Stursberg, Medtech-Analyst bei der Bank Sarasin. Dafür hat sich Straumann technologisch weit vorne platziert. Die neue Oberflächenstruktur ihrer Titanimplantate (SLActive) zeitigt sensationelle Ergebnisse. Das Einwachsen der Implantate in den Knochen (Osseointegration) geht schneller, und die Heilphase hat sich fast halbiert.

Auch Phonak rangiert bei den Hörgeräten technologisch in den Spitzenpositionen. Erfolgreich ist der ursprüngliche Highend-Anbieter in den Mid- und Lowend-Bereich vorgestossen und produziert alle Hörgeräte auf derselben Plattform, was ihm ein Wachstum weit über dem Branchendurchschnitt eintrug. Und Ypsomed hat mit dem semidisposablen Pen OptiClik eine technologische Spitzenstellung errungen. Der Markt belohnte den Pen-Produzenten mit einem Umsatzwachstum von 52 Prozent im ersten Semester des Geschäftsjahrs 2005/06.

Doch die Schwächen der Schweizer Medtech-Szene sind unverkennbar. Ausser Synthes (Umsatz: 1,8 Milliarden Dollar) sind alle relativ klein, mit Verkäufen unter 500 Millionen Dollar. Wollen sie überleben, genügt es nicht, organisch zu wachsen. «Die Grösse», sagt Sarasin-Analyst Strusberg, «spielt in der Branche eine wichtige Rolle.» Übernahmen sollten darum zu einem Wachstumsmotor werden. Synthes beipielsweise hat sich mit der Akquisition von Mathys in die oberste Liga unter den Orthopädiefirmen katapultiert. Die Firma ist gemäss LODH-Studie «a truly global player» geworden.

Gefahr droht vorab Nobel Biocare und Straumann, den beiden globalen Marktführern in der Dentalmedizin. Die drei grossen US-Konzerne Biomet (Umsatz: 2 Milliarden Dollar), Zimmer (3 Milliarden) und Dentsply (1,7 Milliarden) drängen aggressiv in den Zahnimplantate-Markt. Biomet ist mit einem Marktanteil von 16 Prozent mittlerweile hinter den beiden Schweizern schon die Nummer drei.

Auch geografisch sind die grossen Schweizer Firmen nicht ideal positioniert. Fast alle sind zwar in den USA, dem globalen Hauptmarkt, gut vertreten. Doch: Kaum eine hat im asiatisch-pazifischen Raum einen Umsatzanteil von mehr als zehn Prozent; bis zu 90 Prozent werden in Europa und Nordamerika generiert. Nobel Biocare beispielsweise setzt im AP-Raum lediglich 11,7 Prozent ihrer Produkte ab, Straumann bringt es gar nur auf 9,7 und Synthes auf 9 Prozent. Pikant bei Phonak ist: Das Unternehmen produziert seine Hörgeräte vornehmlich in China, verkauft in dieser Region allerdings nur sechs Prozent ihrer Produkte.

BILANZ-Serie Wachstum

Seit den neunziger Jahren leidet die Schweiz an einer chronischen Wachstumsschwäche, eine Besserung ist nicht in Sicht. Liegt es an den sich verschlechternden staatlichen Rahmenbedingungen, oder ist die Schweizer Wirtschaft im internationalen Vergleich zu wenig agil? In Zusammenarbeit mit der internationalen Beratungsfirma A.T. Kearney hat BILANZ eine Diagnose der Schweizer Schlüsselbranchen vorgenommen.

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