Die Personenfreizügigkeit steht unter Beschuss. Kritiker sagen, der freie Personenverkehr überfordere die Länder mit Netto-Einwanderung wie Grossbritannien oder die Schweiz. Immer wieder taucht auch das Gegenargument auf: Auch die Länder mit Netto-Auswanderung würden leiden.

In diese Richtung gehen etwa Medienbeiträge bei der Zeit, beim Schweizer Radio oder bei Vimentis. Bemängelt wird, dass die Arbeitsmigration im ehemaligen Ostblock zu einem Brain Drain führe, also zum Exodus von qualifizierten Arbeitskräften und somit zu intellektueller Verarmung.

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Informatiker wandern nach Norden und Westen

Wie verbreitet ist das Phänomen wirklich?

Der Brüssler Think Tank CEPS hat dazu kürzlich eine Studie veröffentlicht, die den Brain Drain am Beispiel von IT-Professionals misst. Das spezielle an dieser Studie ist, dass sie auf den Angaben der Nutzer von LinkedIn basiert – also auf Daten, die sonst nur selten in ökonomische Analysen einfliessen.

Die Datenanalyse bestätigt die Vermutungen. In Südeuropa (Zypern, Griechenland, Italien, Malta, Portugal und Spanien) sowie in Osteuropa (Estland, Lettland, Litauen, Ungarn, Rumänien, Tschechien, Bulgarien, Polen, Slowenien, Slowakei und Kroatien) übersteigt die Zahl der abgewanderten Informatiker jene der Zuwanderer. Dasselbe gilt für Frankreich.

Alle diese Länder haben einen grösseren Anteil an den europaweiten Abwanderungen wie an den Zuwanderungen. Am grössten ist die Diskrepanz im Süden: Italien & Co. haben einen Anteil von 23 Prozent an den insgesamt gezählten Outflows, aber nur einen Anteil von 14 Prozent an den Inflows.

Umgekehrt ist die Situation in Grossbritannien und Irland mit einem Anteil von 21 Prozent an den Outflows und von 31 Prozent an den Inflows. Einen Überschuss an Informatik-Einwanderern haben auch Nordeuropa (Österreich, Dänemark, Finnland, Deutschland und Schweden) sowie die Benelux-Staaten.

Bei den Studienabgängern, die soeben ihr Diplom erhalten haben, sind die Diskrepanzen sogar noch stärker ausgeprägt. Der Brain Drain aus Ost und Süd ist bei den IT-Profis also eine Tatsache.

Gemäss den Autoren unterscheiden sich die Wanderungsbewegungen von Informatikern damit aber nicht wesentlich von der generellen EU-internen Migration. Diese findet etwa zu einem Drittel entlang der Ost-West-Achse statt (von Osten nach Westen), zu einem Viertel entlang der Süd-Nord-Achse (von Süden nach Norden) und zu zwei Fünfteln innerhalb eines «Kern-Whirlpools» der reichen Länder.

Osteuropa hat vorwärtsgemacht, Südeuropa nicht

Die Frage ist, inwiefern diese Migrationsbewegungen der Wirtschaft in Europa sowie in den einzelnen Ländern genutzt oder geschadet haben.

Die Ausgangsthese dabei ist: Übers Ganze gesehen dürfte sich die Migration positiv auf die Arbeitsproduktivität in Europa ausgewirkt haben. Denn: Arbeitgeber in einem Land und zugewanderte Arbeitnehmer aus einem anderen Land einigen sich normalerweise nur dann über eine Anstellung, wenn beide Parteien dies als nützlich empfinden. Das bedeutet, dass der Gesamtnutzen steigt (die Gegenthese, wonach das freie Matching von Arbeitgebern und -nehmern in einer Marktwirtschaft zu sinkendem Gesamtnutzen führt, ist – gelinde gesagt – ziemlich verwegen).

Darüber hinaus wird es aber bereits knifflig. Auf der Ebene der einzelnen Länder stehen sich zwei entgegengesetzte Effekte entgegen. Einerseits dürfte es dem Süden und Osten geschadet haben, wenn Hochqualifizierte ausser Landes wanderten – die durchschnittliche Produktivität dürfte dadurch gefallen sein. Andererseits könnte dadurch im Süden und Osten pro Arbeitskraft mehr Produktivkapital zur Verfügung gestanden haben, was sich wiederum positiv auf die Arbeitsproduktivität ausgewirkt hätte. Der Gesamteffekt ist a priori ambivalent.

Was überwiegt tatsächlich? Die folgende Grafik gibt darauf eine Antwort. Sie verortet insgesamt 249 Euro-Regionen, und zwar einerseits nach dem Bevölkerungswachstum und andererseits nach dem Wirtschaftswachstum pro Kopf zwischen 2004 und 2014.

Ein Muster sticht ins Auge. Je weiter rechts eine Region auf der Karte steht, desto tiefer unten steht sie tendenziell auch. Das heisst: Je mehr Menschen zwischen 2004 und 2014 in eine Region zugewandert sind, desto geringer fiel dort auch der Zuwachs bei der Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung aus, gemessen in Kaufkraftparitäten. Umgekehrt stieg das BIP pro Kopf in den Abwanderungsregionen.

Beispiele dafür sind die Region Bedfordshire and Hertfordshire in Grossbritannien. Hier wuchs die Bevölkerung in den letzten zehn Jahren um 10,0 Prozent, derweil nahm das BIP pro Kopf nur um 0,7 Prozent zu. In der Region Braunschweig in Deutschland schrumpfte die Bevölkerung dagegen um 5,3 Prozent, gleichzeitig nahm das BIP pro Kopf um 48,8 Prozent zu.

Man kann also nicht pauschal sagen, dass die Brain-Drain-Länder in den letzten zehn Jahren schlechter gefahren sind als der Rest. Speziell nicht die Länder in Osteuropa: Fast alle Regionen in Bulgarien, Rumänien & Co. erfuhren seit 2004 einen Wohlstandszuwachs von 30 bis 100 Prozent – und dies trotz stagnierender oder schrumpfender Bevölkerung.

Weniger gut sieht die Entwicklung allerdings in Südeuropa aus. In vielen spanischen und italienischen Regionen wuchs der Wohlstand über die letzten zehn Jahre nur mässig. Wichtigster Grund dafür dürfte die Eurokrise gewesen sein. In den Benelux-Ländern, in Frankreich und in Skandinavien nahm das BIP pro Kopf dagegen stärker zu. Dies bei einer insgesamt ähnlichen Bevölkerungsentwicklung wie in den südlichen Ländern.

Insgesamt überwog im letzten Jahrzehnt im ehemaligen Ostblock also das Aufhol-Wachstum. Die Wohlstandslücke zu Resteuropa wurde kleiner, trotz schrumpfender Bevölkerung. Der Zusammenhang zwischen Wohlstands- und Bevölkerungswachstum war im restlichen Europa insgesamt wenig ausgeprägt.

Auffallend schlecht war die Wohlstandsentwicklung in Grossbritannien und Irland (die Daten für die verschiedenen Bezirke der City of London sind auf der Karte allerdings nicht eingezeichnet). Ob dies mit der Zuwanderung zusammenhängt, ist unklar. Ein eigentlicher Wirtschaftsboom fand dort aber trotz Brain Gain von Informatikern aus Resteuropa offensichtlich nicht statt.

Vorsicht mit vorschnellen Schlüssen

Man sollte weder die Informatiker-Untersuchung des CEPS, noch die obige, aus Eurostat-Daten generierte Grafik mit Interpretationen überstrapazieren. Beides sind keine ökonomischen Kausalanalysen, beide operieren ohne kontrafaktische Szenarien. Wäre die Wohlstandsentwicklung in den Mittelmeerländern ohne Personenfreizügigkeit besser gewesen? Oder noch schlechter? Und in Grossbritannien? Wir wissen es nicht.

Wir wissen ebenfalls nicht, ob sich der Brain Drain aus Osteuropa in den nächsten zehn Jahren gleich auswirken wird wie in den letzten zehn Jahren (tatsächlich wissen wir nicht einmal, ob es auch in Zukunft einen Brain Drain geben wird). Wird sich das BIP pro Kopf erneut verdoppeln? Oder wird sich das rasche Aufholwachstum in sein Gegenteil verkehren? Die jüngste Vergangenheit besitzt dafür nur beschränkte Aussagekraft.

Ob die Personenfreizügigkeit ein Win-Win-Mechanismus für alle Länder ist, lässt sich nicht abschliessend beantworten. Ausschliessen lässt sich aber, dass sie eine Lose-Lose-Situation erzeugt. Entweder ist es so, dass Emigration und Brain Drain den Osteuropäern geschadet haben (was die Grafik allerdings nicht nahelegt) – oder dann sind es die Briten und Iren, die unter Immigration und Brain Gain gelitten haben (wogegen wiederum die Theorie spricht). Beide Argumente gleichzeitig zu vertreten, macht dagegen schlicht keinen Sinn.