Seit der Veröffentlichung von «Das Kapital im 21. Jahrhundert» von Thomas Piketty lautet der allgemeine Konsens, dass der Kapitalismus automatisch Ungleichheiten schaffe, die im Laufe der Zeit immer grösser würden. Höhere Steuern für die Reichsten könnten die Lösung für diese vermeintliche Fehlentwicklung sein. So lautet zumindest das Fazit des französischen Rats für Wirtschaftsanalyse in seinem aktuellen Gutachten über die Erbschaftssteuer, in dem er sich auf die anhaltende Konzentration des Vermögens privater Haushalte in den letzten dreissig Jahren stützt.    

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Da sich die Lohnunterschiede nicht vergrössern, wird das Kapital als Hauptursache für die Entstehung von Ungleichheiten wahrgenommen. Daher soll die Übertragung besonders grosser Vermögen (dies schliesst die Vermögen von Familienunternehmen ein) stärker besteuert werden. Die Konzentration des Reichtums erscheint einigen so unausweichlich, dass sie sich die Frage nach dem Ende der Geschichte des Kapitalismus stellen.    

Seit vierzig Jahren Disinflation    

Der Kapitalismus hat für reichlich Wohlstand gesorgt und in den letzten Jahrzehnten im grossen Stil dazu beigetragen, die Preisentwicklung in Grenzen zu halten. Die Inflation ist ebenso wie Wachstum oder Verschuldung ein zyklisches Phänomen. Die Disinflation begann in den frühen 1980er Jahren, als die jährliche Teuerungsrate knapp 15 Prozent betrug. Angestossen wurde sie von einer kräftigen Zinserhöhung, zu der die US-Notenbank angesichts der galoppierenden Inflation gezwungen war.    

Über den Autor

Frédéric Leroux ist Mitglied des Strategic Investment Committee des französischen Vermögensverwalters Carmignac.      

Mehrere strukturelle Treiber dämpften im Anschluss schrittweise den Preisschub. So sorgte etwa die demografische Struktur für ein Überangebot am Arbeitsmarkt sowie für einen Anstieg der für Kapitalanlagen verfügbaren Ersparnisse und entsprechende Produktivitätssteigerungen. Zudem begrenzte die Konkurrenz durch Arbeitskräfte aus Schwellenländern die Lohnsteigerungen in den Industrieländern – und die Amazonisierung der Wirtschaft bewirkte schliesslich einen starken Rückgang der Einzelhandelspreise.    

Disinflation führt automatisch auch zu Zinssenkungen    

Durch den Zinsrückgang mit seinem positiven Effekt auf den Wert der abdiskontierten künftigen Dividenden und Coupons verteuern sich die Vermögenswerte. Ausserdem erleichtern tiefe Zinsen den Zugang zu Fremdkapital für Kreditnehmende, die den Gläubigern als Garantie für ihre neuen Schulden Sicherheiten zur Verfügung stellen können. Folglich werden Kapitalbesitzer in einem disinflationären Zyklus doppelt begünstigt.    

Für Arbeitnehmende ist das deutliche Abflauen der Teuerung dagegen ein Albtraum. Wenn sie keine Vermögenswerte besitzen, profitieren sie nicht von entsprechenden Wertsteigerungen – und gleichzeitig setzt die disinflationäre Dynamik des internationalen Wettbewerbs die Löhne unter Druck. In dieser Zyklusphase scheint der Kapitalismus kein Happy End zu bieten, da er für extreme Ungleichheit sorgt. Liegt der Grund hierfür aber nicht vielmehr in der vor allem zyklisch und weniger kapitalistisch bedingten Disinflation?    

Die Rückkehr der Inflation ist nicht nur negativ    

Statt die Ungleichheit durch eine höhere Besteuerung der Hauptprofiteure zu beseitigen, sollte man vielleicht eher davon ausgehen, dass sich der Inflationszyklus 2021 gedreht hat und dass nur ein erneuter Anstieg der Teuerungsrate die Ungleichheit verringern kann. Die Hypothese von einer Rückkehr der Inflation hat durchaus auch gute Seiten. Herbeigeführt wurde sie zunächst durch eine expansive Geld- und Fiskalpolitik, um die Auswirkungen der Pandemie einzudämmen. Dadurch wurden zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder die Voraussetzungen für eine potenzielle Lohn-Preis-Spirale geschaffen.    

Daneben ist bei der Inflationsdynamik zu beachten, ob die jüngsten wirtschaftlichen, politischen und soziologischen Trends möglicherweise fortbestehen. So lässt derzeit eine allmähliche Schwächung des Imperativs der wirtschaftlichen Effizienz zugunsten einer integrativeren Logik beobachten: grüne, aber teure Energie statt preiswerter Energie, SRI-Aspekte als stärkeres Leitmotiv der Anlagepolitik in der globalen Finanzwelt anstelle der Suche nach schnellen Renditen, eine Wirtschaftspolitik, die zum Wohl der Bevölkerungsmehrheit nicht länger vor einer massiven Verschuldung der öffentlichen Haushalte zurückscheut, Produktionsverlagerung und Neuausrichtung des Privatlebens – Stichwort Great Resignation.    

Die Rache der Main Street an der Wall Street    

All diese Trends bergen ein strukturelles Inflationspotenzial aufgrund des dauerhaft eingeschränkten Energie-, Produkt- und Arbeitskräfteangebots. Sie ermöglichen die Rache der Main Street an der Wall Street beziehungsweise der Arbeitnehmerin an den Anlegern: Auf der einen Seite werden durch den Arbeitskräftemangel die Löhne aufgewertet, auf der anderen sinkt der Wert der Vermögenswerte der Aktionäre aufgrund des Zinsanstiegs, der sich entsprechend verstärkt auf die Aktien der am höchsten bewerteten Unternehmen auswirkt.

Geben wir dem Zyklus also die Möglichkeit, die durch ihn selbst verursachten Ungleichheiten zu beseitigen. Warten wir noch etwas ab, bevor wir das Ende der Geschichte des Kapitalismus verkünden. Oft kehren sich alte Trends gerade dann um, wenn es besonders verlockend erscheint, eine lineare Entwicklung zu prognostizieren. Und nach vierzig Jahren Disinflation ...    

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