Zwei Ereignisse rückten die automatische Gesichtserkennung zuletzt in den Fokus. Erstens: Mehrere amerikanische Firmen ziehen sich im Zuge der Protestbewegung aus der Technologie zurück (IBM), oder sie stoppen zumindest vorübergehend den Verkauf an Polizeibehörden (Microsoft, Amazon). Zweitens: China weitet den Einsatz von Facial Recognition wegen der Coronavirus-Pandemie noch stärker aus.

IBM-Technologie dürfe nicht mehr für Massenüberwachung, Racial Profiling oder die Verletzung grundlegender Menschenrechte und Freiheiten genutzt werden: Dies schrieb Konzernchef Arvind Krishna an den US-Kongress. «Künstliche Intelligenz ist ein mächtiges Werkzeug für die Sicherheitsbehörden [...]. Aber Verkäufer und Nutzer von KI-Systemen stehen in der Verantwortung, die KI auf Vorurteile zu prüfen, besonders wenn sie in der Strafverfolgung zum Einsatz kommen.»

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Amazon und Microsoft bliesen später ins gleiche Horn, auch wenn sie den Verkauf an die Polizei nur aussetzen.

Politischer Kurzzeit-Druck

«Im Moment ist der politische Druck sehr gross», sagt Christian Fehrlin, der mit seiner Firma Deep Impact in Winterthur im Bereich der Gesichtserkennung tätig ist. Doch dass sich die Amerikaner wegen der Rassismus-Proteste endgültig aus der Technologie zurückziehen und das Feld den Chinesen überlassen, glaubt er nicht. «Dazu ist nur schon die militärische Bedeutung der Gesichtserkennung in der zukünftigen Kriegsführung viel zu hoch.»

Man müsse den Wortlaut der Erklärungen anschauen, so Fehrlin. Im Firmenblog von Amazon steht explizit, dass man die Software weiterhin zur Verfügung stelle, um damit nach vermissten Kindern zu suchen, die Opfer von Menschenhändlern wurden. Microsoft-Präsident Brad Smith sagte, dass die Firma den Verkauf an die US-Polizei einstelle, bis ein nationales Gesetz vorhanden ist.

Endgültig aussteigen wollen beide Techriesen nicht. Zudem gibt es viele weitere Firmen in den USA, die eine allfällige Lücke schliessen könnten.

Die Marktforschungs- und Beratungsfirma Grand View Research schätzte den globalen Markt im Jahr 2019 auf 3,4 Milliarden Dollar mit einem erwarteten jährlichen Wachstum von rund 15 Prozent zwischen 2020 und 2027.

Schmaler Grat

Weil sie nicht ausspioniert werden wollten, hielten sich westliche Firmen und Staaten mit chinesischer Software und Technologie zurück, sagt Fehrlin. Und auch amerikanische Produkte würden oft verdächtigt, Informationen über Kunden zu sammeln. Das schaffe Platz für Unternehmen wie AVA-X, eine Tochterfirma von Deep Impact, die Software zur Zugangskontrolle und Identifikation mittels automatischer Gesichtserkennung verkauft.

Dabei gehe es beispielsweise um den Eintritt ins Fussballstadion, aber auch um die Unterstützung der Strafverfolgungsbehörden, sagt Fehrlin, der nach eigenen Angaben auch staatliche Stellen zu seinen Kunden zählt. Doch der Datenschutz setze dem Einsatz in Europa enge Grenzen.

«Es ist natürlich nicht immer voraussehbar, ob ein Land in die Diktatur abgleitet – und dann hat es vielleicht schon die Technologie gekauft.»

Christian Fehrlin, Deep Impact

Ausserhalb Europas ist das anders und es ist klar, dass sich auch Diktatoren für die Gesichtserkennung zur Massenüberwachung interessieren. Fehrlin sieht das Problem. «Wir halten uns an die Bestimmungen für Kriegsmaterial des Seco. Aber es ist natürlich nicht immer voraussehbar, ob ein Land in die Diktatur abgleitet – und dann hat es vielleicht vorher schon die Technologie gekauft.»

Wie weitreichend die Bevölkerung überwacht werden kann, zeigt ein Blick nach China. Das Land ist weltweit führend in der Gesichtserkennung – und die Machthaber bauen damit an ihrem digitalen Überwachungsstaat.

Alles ist verknüpft

350 Millionen Überwachungskameras sind in China inzwischen im Einsatz. Zusammen mit Gesichtserkennung und Big Data ermöglicht dies den Behörden eine nie dagewesene Überwachung der 1,4 Milliarden Einwohner des Landes. Die Technologie ist so weit fortgeschritten, dass sie Emotionen erkennt und bewertet.

Chinesische KI-Firmen wie Yitu versprechen eine «sicherere, schnellere und gesündere Welt» (hier ein Imagefilm von Yitu). Doch schon jetzt unterdrückt China mit Hilfe der Gesichtserkennung unliebsame Minderheiten wie die Uiguren – oder nutzt sie um Leute öffentlich blosszustellen, die bei Rot die Strasse überquert haben.

Regierungskritiker können sich sicher sein, dass jeder ihrer Schritte beobachtet wird. Doch wer nichts zu verbergen hat, habe nichts zu befürchten, sagen die Befürworter der Technologie. Und tatsächlich dürfte die praktische Seite für viele Chinesen überwiegen.

Nur mit dem Gesicht kann man bereits Einkaufen, Geld abheben und sogar am Flughafen einchecken. Die Verknüpfung der Daten reicht dabei sehr weit. So müssen sich Handynutzer seit Dezember einem Gesichtsscan unterziehen, wenn sie die SIM-Karte registrieren. Damit erstellt die Regierung eine Datenbank mit den Gesichtern möglichst aller Einwohner.

«Der Gebrauch von Gesichtserkennung schützt die Menschenrechte.»

«Global Times», Peking

Im Zuge der Pandemie konnten die Behörden die Überwachung noch mehr ausweiten. Bewegungsprofile und Gesundheitsdaten werden nun zusammengeführt, um die befürchtete zweite Infektionswelle zu verhindern. Die Big-Data-Massnahmen hätten Schlimmeres verhindert, glauben viele im Land.

Über Datenschutz wird in China kaum diskutiert und wenn, dann dreht sich die Debatte nicht um die allgegenwärtige staatliche Überwachung, sondern um Kriminelle, welche die Daten stehlen könnten. Doch eine echte öffentliche Diskussion ist – wie bei vielen anderen Themen – nicht möglich. 

«Der Gebrauch von Gesichtserkennung schützt die Menschenrechte», titelte die «Global Times», das internationale Sprachrohr der chinesischen Regierung, im Dezember. Die Technologie beschütze die «gewöhnlichen Leute» vor Terroristen und Verbrechern.

Bleibt Europa auf der Strecke?

Trotz der offensichtlichen Probleme der Gesichtserkennung ist Christian Fehrlin überzeugt, dass sich die Technologie durchsetzt. Sie sei praktisch und könne gerade in Zeiten von Corona zum Beispiel Fingerabdruck-Scanner überflüssig machen, die ein hohes Risiko für Schmierinfektionen hätten.  

Wahrscheinlich würden in Zukunft auch in Europa und der Schweiz zentrale Stellen mit Gesichtserkennung arbeiten, etwa im Zusammenhang mit der digitalen Identität. Doch mit seinen strikten Gesetzen gerate Europa gegenüber den anderen Playern ins Hintertreffen, sagt der Techunternehmer. «Weil die Unsicherheit im Bezug auf den Datenschutz so gross ist, wagt man es in Europa nicht einmal, mittels Gesichtserkennung Stadionverbote durchzusetzen», so Fehrlin.

Lesen Sie dazu auch den Kommentar von Bernhard Fischer.

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