Der Warn- und Hilferuf von Severin Schwan ist bereits wieder verhallt. Dabei waren die Worte markant. Der Roche-Chef warnte in deutlichen Worten davor, dass sich die Pharmaforschung aus der Schweiz zurückziehen könnte, sollte das Schweizer Gesundheitssystem nicht endlich digitalisiert werden. Denn für die Pharmaforschung sind digitalisierte Patientendaten von hoher Relevanz. Aber die Schweiz kommt bei der Digitalisierung dieses Bereichs einfach nicht voran. Das Land wird abgehängt.

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Einfache Kausalitäten gibt es nicht. Der Föderalismus spielt eine Rolle, der Fachkräftemangel, abweichende Prioritätensetzung bei den Akteuren, regulatorische Hürden und noch fehlende Lösungsansätze. Es ist auch völlig verfehlt, mit dem Finger auf andere zu zeigen, was ja gerade im Gesundheitswesen mit den diversen Akteuren, die zwar zusammen etwas tun müssten, aber teilweise divergierende Interessen haben, ab und zu einmal vorkommt.

Aber ein Trauerspiel ist das schon, was wir da seit Jahren beobachten. Nur schon die Einführung des Elektronischen Patientendossiers (EPD) ist eine Zangengeburt sondergleichen. Die «Neue Zürcher Zeitung» bezeichnete es kürzlich als «Pflegefall». Dabei sollte man sich vergegenwärtigen, dass das EPD – wenn es dann geboren ist – nicht viel mehr als eine Ansammlung von PDF-Dateien sein wird. Das ist natürlich weit entfernt von dem, was Digitalisierung eigentlich bedeuten könnte.  

Digitalisierung kann Kosten senken

Es ist bezeichnend, dass die Debatte in der Schweiz sich vor allem dem EPD zuwendet. «Digital Health» ist allerdings umfassend zu verstehen und bietet enormes Potenzial: Steigerung der Qualität zum Nutzen der Patientinnen und Patienten, Chancen für Benchmarks und Transparenz, bessere Bewältigung demografischer Herausforderungen, neue Behandlungsoptionen mit Robotik und Metaverse, bessere Wege in der Medikation und ihrer Kontrolle (gerade bei chronischen Erkrankungen), neuartige Alarmierungssysteme, vereinfachte Handhabung von Arztzeugnissen und Rezepten, verbesserte Forschungsmöglichkeiten und so weiter.

Die Aufzählung ist bei weitem nicht abschliessend. Und wenn es auch in der Forschung noch umstritten ist, deutet doch einiges darauf hin, dass mit Digital Health die Gesamtkosten des Systems reduziert werden können.    

Über den Autor

Thomas Reitze ist Geschäftsleiter von T-Systems in der Schweiz.

Verbesserungen und Vereinfachungen bei geringeren Kosten? Wo liegt also das Problem? Ich vermute, dass vor allem drei Faktoren ursächlich für den drastischen Rückstand der Schweiz im Bereich Digital Health genannt werden können: das Vertrauen in digitale Lösungen in diesem sensiblen Bereich inklusive des fehlenden digitalen Mindsets; der Widerstand einzelner Akteure, die wohl befürchten, etwas verlieren zu können oder zumindest besser «gemessen» werden zu können; sowie drittens die Lethargie der politischen Verantwortungsträger.    

Mit ein Grund, weshalb ich als Schweizer Geschäftsführer eines weltweit agierenden grossen Digitalisierungsunternehmens diesen Gastkommentar verfasse, ist, dass ich mein Wissen und meine Position dazu nutzen möchte, das Vertrauen in digitale Lösungen zu vergrössern. Dabei geht es mir um die Schweiz, um unser Land, denn ich sehe, wie weit wir uns von der Spitze entfernen, wie sehr wir uns ausruhen auf den Lorbeeren, fast ohne zu merken, dass andere Länder uns markant distanzieren.

Appell an die Ärzteschaft

Ich möchte nicht, dass Forschungsabteilungen unserer hervorragenden Pharmaunternehmen wegziehen. Pharmaexporte machen einen grossen Teil unserer gesamten Exportwirtschaft aus und «die Chemie» bietet vielen Menschen sinnstiftende Arbeit. Ich möchte nicht, dass diese Forschung in Bälde in Ländern stattfindet, die aktuell ihre Gesundheitswesen digitalisieren. Und vor allem möchte ich nicht, dass kranke Menschen im Ausland besser behandelt werden als in der Schweiz, weil andere Länder im Gegensatz zur Schweiz längst erkannt haben, welches Potenzial Digital Health aufweist.  

Vertrauen lässt sich nur mit Taten aufbauen, dessen bin ich mir bewusst. Datensicherheit und Datenschutz kommen bei Digital Health zentrale Bedeutung zu. Umfragen zeigen dies immer wieder von neuem. Heute dürfen wir aber sagen, dass Schweizer Anbieter, und dazu zählt auch T-Systems, die Daten in der Schweiz speichern und dass der hier vom Gesetzgeber gewollte Datenschutz jederzeit gewährleistet ist. Wir als Digitalisierungsanbieter können sagen, dass wir unsere Hausaufgaben diesbezüglich gemacht haben. Die Speicherung von sensiblen Daten in einer in der Schweiz angesiedelten Cloud ist sicherer als die Lagerung eines papierenen Dossiers in der Hausarztpraxis.    

Sodann möchte ich einen Appell an die Ärzteschaft richten, denn in dieser Gruppe ist die Skepsis am grössten. Digitalisierung, in welchem Bereich auch immer, ist nie nur eine Sache der Technologie, sie ist vor allem eine Sache des Willens und der mentalen Einstellung. Wir haben es in vielen Bereichen, die sich digital transformiert haben, erlebt: Entweder man steuert den Prozess und kann so die richtigen Weichen stellen, oder man wird digitalisiert.

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Gemäss Studien sind 60 Prozent der Besuche beim Hausarzt auf Beschwerden zurückzuführen, von denen 80 Prozent zu Hause mit einfachen Medikamenten gelindert werden können. Ja, das bedeutet eine gewisse «Bedrohung» für Hausärzte, aber gleichzeitig auch eine riesige Vereinfachung für Patientinnen und Patienten. Müssen wir nicht vor allem an sie, an die Gesellschaft, denken?

Ich bin der festen Überzeugung, dass die digitale Transformation des Gesundheitssystems unausweichlich sein wird. Wir können sie jetzt gemeinsam angehen und Werte, die uns wichtig sind, einbringen sowie unsere Prioritäten setzen – oder die Schweiz und ihre Akteure im Gesundheitswesen werden früher oder später dazu gezwungen sein. Dann dürfte es allerdings für einige wirklich schmerzhaft werden.    

Zu wenig Ambitionen

Ich habe eingangs den Föderalismus erwähnt. Unzweifelhaft bringt dieser auch Segnungen mit sich. Bei der Digitalisierung allerdings nützt er nur jenen, die im Grunde genommen gegen Digital Health sind und sich bequem hinter den Mauern des Föderalismus verstecken können. Es ist ja schon bezeichnend, dass Bund und Kantone mit der «Strategie eHealth Schweiz 2.0» die Digitalisierung im Gesundheitswesen zwar offiziell fördern wollen, dass man aber bereits in der Einleitung auf Seite 5 folgenden, meines Erachtens bezeichnenden Satz liest: «Es handelt sich somit nicht um eine umfassende Strategie zur Begleitung der digitalen Transformation des Gesundheitssystems.»

Oder andersrum: Bereits die erste eHealth-Strategie von 2007 (!) widmete sich ausschliesslich dem Elektronischen Patientendossier, und genau gleich verhält es sich mit der zweiten von 2018. Aus meiner Sicht ist das klar zu wenig ambitioniert. Eingedenk des hinderlichen Föderalismus, eingedenk der divergierenden Interessen der Akteure, aber vor allem eingedenk all der sich mit «Digital Health» eröffnenden Chancen müsste es primäres Interesse der Bundesbehörden sein, die digitale Transformation des Gesundheitswesens umfassend strategisch anzupacken, anstatt sich ziemlich isoliert dem EPD zu widmen.

Schmerzlich wird hier jener Gestaltungswillen vermisst, der in der nach wie vor gültigen Maxime «gouverner, c’est prévoir» so treffend formuliert ist. Haben die zuständigen Behörden in Bern keine Lust dazu? Erkennen sie die Chancen nicht? Muss erst die Pharmaforschung das Land verlassen, bis Erkenntnis wächst? Wer weiss. Vonseiten der Dienstleister im Bereich Digitalisierung kann ich nur betonen: Die Hard- und Software, wenn ich das salopp so nennen darf, steht bereit.           

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