Herr Weber, als im Februar die Corona-Horrorbilder aus Italien auftauchten, warnten Sie als erster hochrangiger Firmenvertreter in Europa vor einem drastischen Wirtschaftseinbruch und prognostizierten einen Rückgang des globalen Wirtschaftswachstums von 3,5 auf 0,5 Prozent. Das klang damals sehr pessimistisch, war aber im Nachhinein gesehen noch immer deutlich zu optimistisch. Warum haben alle Prognosemodelle versagt?
Axel Weber: Wir konnten im Februar nicht einschätzen, dass mehr als die Hälfte des Wirtschaftseinbruchs durch die Lockdown-Massnahmen verursacht wurde. Leider ist es so gekommen, aber jetzt glaube ich, dass wir den Tiefpunkt des wirtschaftlichen Einbruchs im Mai hinter uns gelassen haben. Seitdem befinden wir uns in einer V-förmigen Erholung, also in einem Aufschwung. In den letzten Wochen haben sich die Wachstumszahlen jedoch wieder stärker eingetrübt aufgrund neu steigender Fallzahlen. Das Auf bleibt erhalten, der Schwung geht leider etwas verloren.

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Herr Reinhardt, Sie haben Ende Januar am WEF noch am Dinner mit dem amerikanischen Präsidenten teilgenommen. Das Virus war da in China schon aktiv, aber wirklich ernst hat es niemand genommen. Warum?
Jörg Reinhardt: Man hat das Virus unterschätzt, und zwar kollektiv. Die Annahme war, dass es sich um eine ähnliche Situation handle wie bei Sars oder Mers. Beschränkt auf gewisse Regionen Asiens und begrenzt auf zwei bis drei Monate.

Hat da ein Pharmariese wie Novartis kein Frühwarnsystem?
Reinhardt: Es liess sich nicht vorhersehen, wie infektiös und aggressiv das Virus wirklich ist. Das hat man aus den ersten Daten aus China nicht ableiten können.

Sie haben in Ihrer grossen Fokussierungs-Übung vor sechs Jahren das Impfstoffgeschäft von Novartis verkauft. War das im Nachhinein ein Fehler?
Reinhart: Wir haben das Impfstoffgeschäft verkauft, weil wir ein kleiner Spieler waren und deshalb nicht wirklich kompetitiv. Im Gegenzug haben wir ein Onkologie-Portfolio von GlaxoSmithKline bekommen, mit dem wir sehr glücklich sind. Aus Businesssicht war es ein guter Entscheid.en wieder deutlich zurückgeworfen werden.

Jörg Reinhardt

Der promovierte Pharmazeut begann 1982 bei der Novartis-Vorgängerfirma Sandoz und wurde 2008 Chief Operating Officer von Novartis. Nach einem Abstecher zu Bayer kehrte der 64-Jährige 2013 als Präsident zurück. Anfang 2018 ersetzte er den bisherigen CEO Joe Jimenez durch Vas Narasimhan.

Dafür stehen Sie jetzt nicht an der Front der Impfstoffentwicklung.
Reinhardt: Wenn ich das Impfstoffgeschäft derzeit anschaue, beneide ich meine Kollegen nicht. Es ist extrem viel Druck im System, möglichst schnell Daten zu erzeugen. Die Industrie besteht zu Recht darauf, nach ihren üblichen Gesetzmässigkeiten vorzugehen und wirksame und sichere Medikamente auf den Markt bringen. Bislang gibt es zu wenig Daten, um wirklich beurteilen zu können, ob das in den nächsten Wochen und Monaten gelingen kann. Es gibt erste Indizien, dass vielleicht bald ein Impfstoff zur Verfügung stehen könnte. Aber es gibt auch viele vorsichtige Stimmen, und zu denen zähle ich mich auch, die sagen: Wir wissen einfach viel zu wenig über die mittelfristige Wirksamkeit von diesen Medikamenten. Wir wissen nichts über die Sicherheit, wir wissen nichts über Langzeitfolgen.

Das Thema war auch dominant im US-Wahlkampf, weil der Präsident unbedingt bis zur Abstimmung einen Impfstoff präsentieren wollte. Rufen da Regierungsvertreter direkt bei den Pharmachefs an?
Reinhardt: Das ist schon so, ja. Dass es bis zum Wahltag einen Impfstoff geben wird, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Vielleicht hat man belastbare Daten für ein Medikament zu Beginn des nächsten Jahres. Aber die Vertriebskette von Impfstoffen ist relativ kompliziert.

Wie lange dauert es, bis ein Impfstoff in grossen Mengen beim Endkonsumenten ankommt?
Reinhardt: Wenn wir von sehr vielen Millionen Dosen sprechen, dann wird das schnell ein halbes oder Dreivierteljahr dauern. Dass würde heissen, dass wir vor der zweiten Hälfte des nächsten Jahres nicht genügend Material haben, um wirklich breit impfen zu können. Und das ist der Best Case.

 Jörg Reinhardt (l.) und Axel Weber (r.) im Gespräch mit BILANZ-Chefredaktor Dirk Schütz bei der Aufzeichnung des BILANZ Business Talk am 1. Oktober.

Jörg Reinhardt (l.) und Axel Weber (r.) im Gespräch mit BILANZ-Chefredaktor Dirk Schütz bei der Aufzeichnung des BILANZ Business Talk am 1. Oktober.

Quelle: Tino Zimmermann, Noé Müller / Pressetv.ch

Herr Weber, die UBS machte zuletzt vor allem durch Fusionsgerüchte von sich reden: Credit Suisse, Barclays, Deutsche Bank. Wann ist die Heirat geplant – und mit wem?
Weber: Wenn man die Grundsatzaussage trifft, dass die Industrie sich konsolidieren wird, wird man als starke Bank in Europa sehr schnell in diese Brautschau aufgenommen. Aber wir sind nicht auf Brautschau. Solche Übernahmen binden Managementkapazitäten über Jahre hinweg, und das würde man nicht in so einem unsicheren Umfeld wie jetzt lostreten. Und die Namen, die Sie erwähnt haben, kämpfen alle mit eigenen Problemen. Die Spekulationen waren ein verspätetes Sommerloch in der Schweizer Presse.

Aber haben Sie denn mit der Credit Suisse verhandelt?
Weber: Zu diesem Thema gebe ich keinen Kommentar ab. Ich glaube, die Leute waren es einfach müde, über Corona zu lesen, und da fielen die Medienberichte auf fruchtbaren Boden.

Axel Weber

 

Seit neuneinhalb Jahren präsidiert der frühere Ökonomie-Professor den UBS-Verwaltungsrat. Zuvor leitete der 63-Jährige sieben Jahre die Deutsche Bundesbank. Er berief im Februar Ralph Hamers zum neuen UBS-Chef. Der Holländer folgt am 1. November auf Sergio Ermotti.

In näherer Zukunft, so kann man schliessen, ist also keine Grossfusion in Sicht.
Weber: Wie gesagt: Ich bin nicht auf Brautschau, im Gegenteil. Wir haben intern genügend Arbeit, den neuen CEO erfolgreich in die Bank einzuführen. Darauf müssen wir uns jetzt konzentrieren. Wir sind heute in einer Position der Stärke, und diese werden wir nicht riskieren.

Wie ist es denn bei Ihnen, Herr Reinhardt? Die Pharmaindustrie ist ein Gewinner der Krise – führt das zu Übernahme-Hunger?
Reinhardt: Ich dachte, Sie fragen jetzt, wann wir endlich mit Roche fusionieren … Die Pharmaindustrie ist ja noch immer stark fragmentiert, auch die grössten Firmen haben nur vier bis fünf Prozent Marktanteil. Von den kleineren Firmen mit Marktwerten bis zu 30 Milliarden Franken sind in den letzten zehn Jahren viele verschwunden. Wir haben hier also eine permanente Konsolidierung. Doch grosse Deals sehe ich nicht.

Der Grossteil Ihrer Mitarbeiter arbeitet weiterhin von zu Hause. Wie lange wird das Homeoffice noch bleiben?
Weber: In Asien sind wir immer noch mit dem Split-Team-Konzept unterwegs. Etwa 50 Prozent der Mitarbeiter sind jeweils in der Bank. Hier in der Schweiz liegt die Präsenz etwas höher, wenn Sie bei uns in die Bahnhofstrasse gehen, ist praktisch das gesamte Top-Management täglich vor Ort. In den USA sind nur fünf bis zehn Prozent der Mitarbeiter im Büro. Der Betrieb fokussiert sich auf die systemerhaltenden Funktionen. In New York haben wir zwei Engpässe: Den Arbeitsweg mit den öffentlichen Verkehrsmitteln und die Lifte in den Hochhäusern. London ist sehr ähnlich.

Herr Reinhardt, Novartis hat den schönsten Campus der Schweiz für 13 000 Mitarbeiter. Wie viele arbeiten dort zurzeit?
Reinhardt: Auf dem Campus selbst sind es etwa 30 Prozent der Belegschaft. Wir haben aber auch Produktionsstätten ausserhalb des Campus. Da gab es keinen Standort, der gestoppt hat. Bei der Forschung gab es für unsere Mitarbeiter im Labor einen gewissen Ausfall von drei bis vier Wochen: Wir beziehen viele Rohstoffe aus China und Indien, da hatten wir zum Teil Lieferschwierigkeiten. Aber auch das liess sich handhaben.

Erster TV-Auftritt seit Corona: Novartis-VR-Präsident Jörg Reinhardt (l.) und sein UBS-Pendant Axel Weber beim BILANZ Business Talk.

Ausflug ins TV-Studio, aber Lob fürs Homeoffice: Beide Präsidenten sehen keinen Produktivitätsabfall bei ihren Mitarbeitern.

Quelle: Tino Zimmermann, Noé Müller / Pressetv.ch

Wie lässt sich noch eine eigene Kultur aufrechterhalten, wenn die Mitarbeiter in Jogginghosen vor dem Computer sitzen?
Weber: Für die eingespielten Teams ist das kein Problem. Schwieriger ist es für die neuen Mitarbeiter, da brauchen wir physische Präsenz. Allerdings wird diese auch von den Kunden oft nicht gewünscht. Im Wealth Management etwa will der Kunde oft gar nicht mehr den Vermögensberater in der Bank treffen oder zu sich nach Hause kommen lassen: Er ist froh, die Vermögensverwaltung über digitale Kanäle steuern zu können. Der Digitalisierungsschub der Corona-Krise liegt ein Mehrfaches über dem, was wir uns bei einer organischen Entwicklung über Jahre hinaus hätten träumen lassen. Das ist für uns eigentlich positiv, wir müssen es jetzt nur noch nutzen. Wir sind jetzt neu im Wohnzimmer der Kunden.

J.P.-Morgan-Chef Jamie Dimon bemängelt, dass die Produktivität seiner Homeoffice-Mitarbeiter vor allem am Montag und am Freitag deutlich sinkt. Spüren Sie das auch?
Weber: Nein. Das Problem ist eher, dass wir bei den Mitarbeitern eine zu lange Präsenz haben. Wir müssen schauen, dass sie nicht von montags früh am Morgen bis freitags spät in die Nacht arbeiten. Wenn man aus dem Büro geht, fährt man den Computer herunter, die Mails aus den USA warten dann bis zum nächsten Tag. Diese Disziplin hat man nicht notwendigerweise zu Hause. Da müssen wir Freiräume schaffen, damit unsere Mitarbeiter nicht daueransprechbar sind. Die grosse Frage wird sein: Wie werden wir es mit der technologischen Ausstattung machen? Braucht jeder zu Hause ein Büro, das konferenzfähig ist? Muss die Bank dann die Kosten übernehmen? Das werden wir neu durchdenken müssen.

Reinhardt: Wir haben bei uns auch keinen Einbruch in der Produktivität festgestellt. Im Gegenteil: Wir sehen, dass die Kollegen sehr viel Zeit am Computer und in Videokonferenzen verbringen. Vielleicht zu viel, aber zumindest hat es keinen negativen Einfluss auf die Produktivität.

„Corona verstärkt die Ungleichheit. Viele Entwicklungsländer werden zurückgeworfen werden”, sagt Jörg Reinhardt.

Bei Novartis hat der neue CEO Vas Narasimhan ja ein Kulturwandelprojekt angestossen unter dem Schlagwort «Unboss». Wie lässt sich das in der Homeoffice-Kultur leben?
Reinhardt: Das zentrale Element von «Unboss» ist Selbstverantwortung der Mitarbeiter, und das lässt sich im Homeoffice bestens umsetzen.

Ist der Campus nicht viel zu gross?
Reinhardt: Wir haben schon vor der Krise damit begonnen, Fremdfirmen bei uns anzusiedeln. Diesen Weg gehen wir weiter, und das funktioniert bis jetzt ganz gut. Wir zielen jetzt verstärkt auf die Wissenschaft: Wir wollen in den nächsten Jahren verschiedenen Forschungsfirmen Zugang zum Campus bieten.

Dennoch: Der Campus wirkt überdimensioniert.
Reinhardt: Wir versuchen auch in Zukunft, die Kapazität zu nutzen. Unsere Mitarbeiter müssen sich treffen. Das bleibt elementar. Vielleicht aber nicht mehr jeden Tag von neun bis fünf Uhr.

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Kommen wir zur Börse. Die trübe Wirtschaftslage scheint den Anlegern egal zu sein. Warum?
Weber: Wir haben eine sehr expansive Geldpolitik. Allein die Notenbanken haben im Zuge der Corona-Krise global mehr als sieben Billionen Dollar zusätzliche Liquidität in den Markt gepumpt, das sind fast zehn Prozent des globalen Bruttoinlandprodukts. Weitere zehn Prozent kommen durch die Fiskalstimulationen wie Arbeitslosenprogramme oder Subventionen hinzu, dann noch mal fünf Prozent über staatliche Garantien. Das heisst: Wir haben 25 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung zur Stimulierung eingesetzt. Da wundert es mich nicht, dass die Börsen jubeln. Aber der Unterton ist eben immer: Wie lange noch?

Und: Wie lange noch?
Weber: Die Realwirtschaft und die Finanzwelt haben sich entkoppelt. Wann immer das passiert, muss man sich die Frage stellen: Wie findet die neue Kopplung wieder statt? Entweder wächst die Wirtschaft äusserst dynamisch, oder die Finanzmärkte korrigieren. Das äusserst dynamische Szenario können wir ausschliessen. Insofern glaube ich, dass eine gewisse Euphorie in den Finanzmärkten zurzeit vorhanden ist. Es wird Rücksetzer geben.

"Wir sind nicht auf Brautschau. Die Spekulationen waren ein verspätetes Sommerloch in der Schweizer Presse”, sagt Axel Weber

Die Flutung der Märkte müsste eigentlich zu starker Inflation führen. Droht gar eine Hyperinflation?
Weber: An eine Hyperinflation glaube ich nicht. Aber die Märkte rechnen sich momentan das Inflationsrisiko künstlich klein. In der Finanzkrise ist ein Grossteil der Mittel in den Finanzsektor geflossen. Jetzt führt ein Grossteil der Programme direkt zu Konsum und Investitionsausgaben und damit auch entsprechend zu höherer Kaufkraft. In den nächsten ein bis zwei Jahren sehe ich keine Inflation, da kämpfen wir darum, auf das Vorkrisenniveau zurückzukommen. Doch dann kann es durchaus zu inflationären Tendenzen kommen.

Herr Reinhardt, lassen Sie uns noch einen Ausblick wagen auf das nächste Jahr. V, U, L – was erwarten Sie für die Konjunktur?
Reinhardt: Was ich unlängst in Asien gehört habe, ist ein K. Das K hat zwei Beine, das eine ist ein V, und das andere ist ein Bein nach unten – und trifft vor allem viele Entwicklungsländer. Das würde bedeuten, dass es zu einer sehr differenzierten Entwicklung käme, die für den westlichen Markt wahrscheinlich schnell und gut sein wird, die aber für viele Entwicklungsländer schwierig wird. Man muss also sehr differenziert anschauen, wie sich das in den nächsten ein bis zwei Jahren entwickeln wird.

Wie ist Ihr Szenario bei Novartis?
Reinhardt: Wir hatten ein sehr gutes erstes und ein nicht so gutes zweites Quartal. Jetzt rechne ich mit einer leichten Erholung für den Rest des Jahres, im nächsten Jahr wird sich das Geschäft dann wieder bei einem stabilen Wachstum einpendeln. Allerdings glaube ich schon, dass dieses Ausmass der Ungleichheit in der Entwicklung der Welt zunimmt. Und das ist etwas, das mittelfristig sehr viel beunruhigender ist als eine Pandemie. Corona verstärkt die Ungleichheit. Viele Entwicklungsländer, die gerade in der Erholungsphase standen, werden wieder deutlich zurückgeworfen werden.

Dirk Schütz
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