Mit der grössten Überarbeitung der Regulierung des Finanzmarkts seit über 30 Jahren will die britische Regierung London wieder zu einem der wichtigsten Finanzplätze weltweit machen. Schatzkanzler Jeremy Hunt kündigte am Freitag ein Paket von mehr als 30 Massnahmen an. Zurückgedreht werden damit eine Reihe von Reformen, die ursprünglich als Folge der Finanzkrise 2008 eingeführt worden waren.

«Wir sind fest entschlossen, die Rolle Grossbritanniens als eines der offensten, dynamischsten und wettbewerbsfähigsten Zentren für Finanzdienstleistungen in der Welt zu sichern», sagte Hunt. Das Wachstum im ganzen Land werde damit angekurbelt, versicherte er. 

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Dafür würden Hunderte von Seiten «belastender Rechtsvorschriften der EU», die noch in Kraft seien, abgeschafft und ersetzt. Wegfallen sollen etwa Regeln zur persönlichen Haftung von Bankvorständen, ausserdem sollen die Kapitalvorschriften für kleinere Kreditinstitute erleichtert werden.

Lockere Regeln für Finanzdienstleister haben die Konservativen immer wieder als einen der grossen Vorteile des Brexits hervorgehoben. Erst ausserhalb der Vorgaben von Brüssel sei es möglich, die Regulierung auf die Bedürfnisse und Stärken der britischen Wirtschaft zuzuschneiden.

Viele der Schritte seien allerdings genauso gut innerhalb der Europäischen Union möglich gewesen, sagen Kritiker. Sie warnen zudem vor der Gefahr, die teuren Lehren der Finanzkrise zu vergessen. Fast 140 Milliarden Pfund hat die Regierung damals für die Rettung von Kreditinstituten aufgewendet. 

Londons Rolle als Hauptstandort für alle Finanzfragen hat in den vergangenen Jahren einige Risse bekommen. Die Börse Amsterdam hat London als europäischen Standort mit den höchsten Aktienumsätzen überholt. Kurzfristig hatte zudem Paris London bei der Marktkapitalisierung des Standorts überholt, bevor Währungsschwankungen das Verhältnis wieder umgedreht haben. Hinzu kommen gewichtige Wettbewerber von New York bis Singapur.

Weniger Haftung für Bankvorstände

«Londons finanzielle Reputation ist seit dem Brexit deutlich gebremst», sagte Sophie Lund-Yates, Analystin bei Hargreaves Lansdown. Das sei ausgerechnet zu einer Zeit passiert, in der die Regierung versucht habe, zu Investitionen zu ermutigen und das Wachstum zu beschleunigen. 

«Aber leider ist die Anziehungskraft einfach nicht da, viele von den besten britischen Unternehmen schnappen sich internationale Investoren und London ist dabei, seinen Status als wichtigster Handelsplatz zu verlieren.»

Überarbeitet wird auch das Zertifizierungsregime für das Management. Eingeführt nach der Finanzkrise, müssen Kreditinstitute und Versicherer Personen benennen, die die Verantwortung für bestimmte Aktivitäten im Konzern tragen – und so, wenn nötig, zur Rechenschaft gezogen werden können.

Den Betroffenen drohen Geldstrafen, Arbeitssperren und in schweren Fällen Gefängnisstrafen. Die Regeln hätten zu deutlich längeren Genehmigungszeiten für Personalentscheidungen geführt, insbesondere bei Besetzungen aus dem Ausland, klagen Branchenvertreter. 

Neu geordnet werden soll auch die sogenannte Einfriedung einzelner Geschäftsbereiche. Nationale Aktivitäten wie das Hypotheken- oder Privatkundengeschäft werden dabei regulatorisch vom Investmentbanking getrennt, jeder Bereich muss sein eigenes Risikokapital bereitstellen. Eine Lockerung soll die Kosten für Institute reduzieren, die vor allem für Privat- und kleinere Firmenkunden arbeiten.

Änderungen beim Short-Selling 

Versicherungen und Pensionsfonds erhalten mehr Möglichkeiten, in langfristige, wenig liquide Infrastruktur-Anlagen zu investieren. Auch für die Verbriefung von Risiken und beim Short-Selling sind Änderungen geplant. Geprüft wird schliesslich ein Rahmen für eine digitale Zentralbank-Währung. 

Auch die EU überarbeitet ihre Finanzmarktregulierung derzeit grundlegend. In einzelnen Bereichen, etwa bei Vorgaben zu Krypto-Anlagen, ist sie dabei schon weiter als London. 

Die britischen Aufsichtsbehörden bekommen eine zusätzliche Zielvorgabe. Neben der Sicherung der Finanzstabilität und dem Schutz der Verbraucher rücken die Förderung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit.

Diese neue Rolle kommt nicht überall gut an. Sie sei entweder «zwecklos oder gefährlich», kommentierte John Vickers, Professor für Volkswirtschaftslehre in Oxford, der nach der Finanzkrise eine Kommission zum Kreditsektor geleitet hatte. 

Den Eindruck von einer ganz fundamentalen Wende wollte Hunt mit den neuen Regeln nicht erwecken. Unter seinem Vorgänger Kwasi Kwarteng war das Paket als «Big Bang 2.0» bezeichnet worden, in Anlehnung an die Deregulierung des Finanzsektors unter Premierministerin Margaret Thatcher in den 1980er Jahren.

Inzwischen heissen die Massnahmen «Edinburgh Reformen», nach der schottischen Metropole, in der Hunt sie einer Gruppe von Bankern vorgestellt hat. Auch der Schwerpunkt hat sich verschoben. Im Vordergrund steht die Anpassung von Regeln innerhalb des Rahmens internationaler Standards. 

«Es ist entscheidend, die Schritte in der Bewertung nicht zu übertreiben», sagte Jonathan Herbst, Leiter Finanzmarktregulierung bei der Kanzlei Norton Rose Fulbright. «Es gibt damit kein Zurück in die Welt vor der Finanzkrise.»

Dieser Artikel erschien zuerst auf welt.de.

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