Noch sind es wenige Flüchtende, die Vladimir Putins Truppen entronnen und in der Schweiz angekommen sind. Eine Registrierpflicht gibt es nicht. 7000 ukrainische Familien würden in der Schweiz leben, sagte Migrationsministerin Karin Keller-Sutter am Freitag. Diese seien das Hauptziel der bisherigen Kriegsflüchtlinge.

Rund 300 Ukrainerinnen und wohl einige wenige Männer, die nicht im wehrfähigen Zustand sind, hätten sich in Asylzentren gemeldet, hiess es weiter. Doch bald dürften hier sehr viel mehr Menschen ankommen, als die Schweiz sich vorstellen kann. Es werden Zehntausende sein. Das zeigen die folgenden Überschlagsrechnungen.

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1968 flüchteten 210'000 Menschen aus der Tschechoslowakei. Sie rannten auch damals vor russischen Invasoren davon. 14'000 wurden als Asylbewerber hierzulande aufgenommen. 56 Prozent waren Hochschulabgänger.

Sechs Millionen Menschen lebten seinerzeit in der Schweiz. Sie waren fast unisono bereit, diese Flüchtlinge zu integrieren. Gleiches galt für die Arbeitgeber, die Solidarität war gross: Tschechische Ingenieure und Ärzte, Männer wie Frauen, erhielten oft innert weniger Monate einen qualifizierten Job mit Schweizer Löhnen.

1956 nach dem Ungarnaufstand gegen die Russen und die nachfolgende Invasion Moskaus waren es ähnlich viele. 14'000 Ungarn kamen damals auf 5 Millionen Schweizerinnen und Schweizer. Und viele machten hier Karriere.

Viel mehr Menschen auf der Flucht als früher

Derzeit sind fünfmal mehr Menschen auf der Flucht als damals – und es könnten noch viel mehr werden. «Es wird eine weitere starke Zunahme von Fluchtbewegungen aus der Ukraine erwartet», sagt die Eidgenössische Migrationskommission. Die Uno schätzt die Zahl auf bis zu 4 Millionen. In der Ukraine lebten bis zur Invasion 42 Millionen Menschen – fünfmal mehr als in der Tschechoslowakei. Nimmt man diese Verhältnisse zum Massstab, könnten vielleicht bald schon 60'000 bis 70'000 Flüchtlinge in die Schweiz kommen.

Ist die Schweiz darauf vorbereitet? Wir sind es nicht. Das ist kein Vorwurf, der Krieg erreicht die Schweiz unvermittelt. Doch jetzt müssen sich nicht nur der Bund – Karin Keller-Sutter macht das vorbildlich – und die Kantone vorbereiten, sondern auch die Gemeinden, etwa mit dem Bau von Schulklassen und Wohnungen, und die Arbeitgeber.

Die Medienkonferenz vom Freitag

Der Bundesrat hat Massnahmen zur Sicherung der Gasversorgung für den nächsten Winter beschlossen. Er hat weitere Sanktionen gegen Russland beschlossen. Und er will flüchtenden Ukrainerinnen und Ukrainern helfen. 

Am Freitag traten Karin Keller-Sutter, Simonetta Sommaruga und Guy Parmelin vor die Medien, um die jüngsten Entscheide zu erläutern. Hier lesen Sie mehr zu den Massnahmen und hier können Sie die Pressekonferenz selbst sehen.

Der Bundesrat hat heute einen mutigen Schritt getan und folgendes entschieden: Menschen, die vorübergehend in die Schweiz kommen, dürfen unter dem sogenannten Schutzstatus S einen Arbeitsvertrag mit Schweizer Firmen abschliessen, und zwar ohne Wartefrist. Dafür braucht es eine neue Verordnung. Mit den Kantonen, Gemeinden und Flüchtlingsorganisationen will Bundesrätin Karin Keller-Sutter die Bereitschaft dazu ausloten. Der Entscheid soll bereits in einer Woche fallen. Danach will Keller-Sutter den Bundesrat beantragen, die Änderung der Verordnung zu beschliessen.

So könnten Arbeitgeber bereits in ein bis drei Monaten damit beginnen, den ersten geflüchteten Ukrainerinnen (und einigen Ukrainern) einen Arbeitsvertrag anzubieten. FDP-Nationalrat und Unternehmer Andri Silberschmidt  freut sich über diesen Entscheid: «Er ist sehr zu begrüssen!»

Er hatte beim Bundesrat für diese Ausnahmeregelung lobbyiert. Dem Vernehmen nach schaut vor allem die IT-Branche erwartungsvoll diesem Zufluss von Fachkräften entgegen. Denn nicht wenige Firmen haben IT-Support-Hubs in der Ukraine.

Gut ausgebildet

Eine Aufstellung der Unesco zeigt, dass 47 Prozent der ukrainischen Werktätigen einen Hochschulschluss haben. Frauen machen die Mehrheit aus. Ihr Anteil liegt bei 55 Prozent. Weitere 39 Prozent haben einen höheren Fachabschluss.

So kann die Schweiz davon ausgehen, dass die allermeisten Flüchtlinge die nötige Bildung haben, um zügig in Schweizer Firmen einzusteigen. Bei Hochqualifizierten steht meist nicht so sehr der Lohn im Vordergrund, als die sofortige Einsatzfähigkeit und Qualifikation.

Vorurteile, dass Flüchtlinge beruflich schwierig zu integrieren sind, dürften sich diesmal nicht bewahrheiten. Viele dürften Englisch sprechen und rasch eine Landessprache lernen.

Aber mit Einwanderern kommen auch fremde Erwartungen. Das zeigt sich allein am Salär: In der Ukraine liegt der Mindestlohn bei 350 Euro, bei uns ist er das Zehnfache. Dafür ist bei uns alles viel teurer als dort, vor allem die Miete. Im Pandemie-Sommer 2020 hatten 11 Prozent der Ukrainer nicht genug Geld für Nahrung und ein Drittel hatte nicht genug Geld für Kleider. Mangel war für viele der Alltag. Dies zeigt eine Befragung. Vergleichbares gab es in der Schweiz nicht. Sie muss sich auf kulturelle Unterschiede gefasst machen.